Kurt Demmler – »Mein Herz muss barfuß gehen«

Der Link zum Sonntag:

Kurt Demmler darf man wohl eine »tragische Figur« nennen. Zum einen, weil er exemplarisch zu den Verlierern der Deutschen Wiedervereinigung (treffender vielleicht: der Vereinnahmung des deutschen Ostens durch den deutschen Westen) gehörte. Zum anderen, weil er zwar ein großer Liebender war, aber darin zu selbstsüchtig und unfähig, jene Menschen, mit denen er »in Berührung« kam, nicht nur zu benutzen, sondern sie in ihrer Würde und Selbstbestimmung wirklich zu achten und zu lieben.

Demmler, 1943 in Posen geboren, wuchs in Cottbus und Klingenthal auf und studierte – als Sohn eines Ärzte-Ehepaars – schließlich Mitte der sechziger Jahre an der Karl-Marx-Universität in Leipzig Medizin. Bereits da trat er mit eigenen Liedern auf. »Schon meine Löschblätter in der Grundschule waren vollgeschmiert mit eigenen Songtexten. … Ich war Liedermacher, einer der ersten, auf die dieser biermannsche Begriff aus der brechtschen Entromantisierungskiste angewendet wurde.«

Demmler gehörte zu den Liedermachern der ersten Stunde, war sozusagen ihr Geburtshelfer im Osten Deutschlands, und er war zweifelsfrei einer der besten, populärsten und einflussreichsten. Ein »Liedermacher« im radikalsten Wortsinn, der nicht nur seine eigenen Lieder zur Gitarre vortrug, sondern unaufhörlich und in rasantem Tempo Lieder und Liedtexte verfasste. Dirk Michaelis, seit 1985 Sänger der Gruppe »Karussell«, erinnert sich: »Kurt Demmler war in der Lage, innerhalb von wenigen Minuten Texte zu schreiben, die den Nerv und das Lebensgefühl in der DDR auf den Punkt brachten.«

Kurt Demmler – »Das eine denken, das andere sagen«

Seine Produktivität kannte in jeder Hinsicht keine Grenzen, und die mehr als 10.000 Texte und Lieder, die er in über 30 Jahren komponierte und verfasste, begründeten und formten nicht nur ganz wesentlich das, was jene typische Qualität und Eigenheit der DDR-spezifischen Poesie in Rock, Pop und Schlager ausmachte, sondern schufen so auch viele Hits und Klassiker dieses Genres, die untrennbar zur Geschichte und Musik dieses Staates gehören, und nicht wenige davon haben auch heute nichts von ihrem Charme und ihrer Stimmigkeit verloren.

Kurt Demmler & Petra Rechlin – »Wer bin ich und wer bist Du?«

Zuweilen schien er den offiziellen Musikbetrieb der kleinen DDR gewissermaßen im Alleingang »zu bestücken«, nahezu alle Bands und Interpreten ließen sich Lieder von ihm schreiben oder interpretierten diese, eine schier endlose Liste, aus der ich hier nur einige nenne: Dialog, Drei, Electra, Express, Karat, Karussell, Klaus Renft Combo, Puhdys, Silly, Stern-Combo Meißen, Wir, Uschi Brüning, Gunther Emmerlich, Veronika Fischer, Nina Hagen, Wolfgang Lippert, Frank Schöbel, Petra Zieger. Demmlers Erfolg blieb dabei nicht auf den Osten beschränkt, auch z.B. Katja Ebstein, Harald Juhnke, Karel Gott und Daliah Lavi interpretierten seine Texte. Einige seiner Klassiker seien hier beim Namen genannt – auch diese Liste ließe sich unendlich weiterführen: »Bin ich glücklich«, »Bluejeans«. »Du hast den Farbfilm vergessen«, »Ehrlich will ich bleiben«, »Frei wie der Wind«, »König der Welt«, »No Bomb«, »Tritt ein in den Dom«, »Wasser und Wein«, »Weißes Gold«, »Wer die Rose ehrt«, »Wie ein Fischlein unterm Eis« …

»Jeder Mensch kann jeden lieben« [private Interpretation]

Demmler wurde sozusagen zur »Grauen Eminenz« der ostdeutschen Musik-Szene, galt als der Rock-Poet der DDR schlechthin, und er wurde auch von offizieller Seite geehrt, 1973 erhielt er den Kunstpreis der DDR, 1985 den Nationalpreis (für »Der kleine Prinz«). Dies obwohl er sich diesem Staat niemals angebiedert hatte und sich immer wieder weigerte, Kompromisse einzugehen oder still zu halten. 1976 gehörte er zu den Mitunterzeichnern der Protestresolution gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann, 1989 zu den Erst-Unterzeichnern der Resolution der Rockmusiker und Liedermacher für Demokratisierung und Medienfreiheit in der DDR. Obwohl er gleich zu Beginn seines Auftretens in der Öffentlichkeit und auch später immer wieder Auftrittsverbot erhielt, schaffte er es, auch kritische Texte an der Zensur vorbei in die Medien und ins Bewusstsein zu bringen. Seine Texte waren geschmeidig und voller Poesie, oberflächlich gab es daran kaum etwas zu beanstanden, doch die Brisanz lag zuweilen zwischen den Zeilen, in den oft ungewöhnlichen Bildern und Metaphern. So schuf Demmler ganz entscheidend jene eher zurückgenommenen, kunstvollen, fast akademischen Texte mit, die uns heute als »typisch DDR« erscheinen.

Sein letztes öffentliches Konzert vor der Wende wurde im September 1989 gewaltsam beendet, danach spielte er – nun »illegal« – nur noch in Kirchen. Am 4. November 1989 stand Demmler in Berlin auf dem Alexanderplatz und trug – unmittelbar nach einer Rede des Ex-Stasi-Generals Markus Wolf – vor einer halben Million Menschen sein neues Lied »Irgendeiner ist immer dabei« vor, in dem er mit einer ganz neuen, scheinbar selbstverständlichen Offenheit Macht und Machtausübung der Staatssicherheit attackierte, ebenso aber auch (selbst-)kritisch die Verstrickung aller Bürger darin thematisierte:

Kurt Demmler – »Irgendeiner ist immer dabei« (4.11.1989)

Offenbar hatte Demmler die neuen Zeichen der Zeit erkannt und in seiner gewohnten Schnelligkeit in einen Text gepackt, den – zumal vor einer solchen Öffentlichkeit – zu singen noch wenige Wochen vorher völlig unmöglich gewesen wäre. Dass diese neue Zeit für ihn und die meisten seiner Künstler-Kollegen beinahe oder ganz das existenzielle Aus bedeuten würde, das hingegen wird er wohl nur schwerlich geahnt haben. Die Wende sollte auch für ihn eine große und gewaltige werden, eine unumkehrbare und alles umkehrende Wende: der Anfang vom Ende. Er verschwand in der Bedeutungslosigkeit, und seine Versuche, in der – nun gesamtdeutschen – westdeutschen Unterhaltungsindustrie wieder Anschluss zu finden, nahmen fast groteske Züge an und waren nicht frei von Demütigungen. 2004 schrieb er: »Ich werde bald 60 sein (Jagger ist es schon – die Feststellung beruhigt irgendwie). Da darf man in gerade dieser Gesellschaft keine großen Ansprüche mehr ans Gebrauchtwerden stellen. Und ich bin ja auch praktisch mit der Wende in den Vorruhestand getreten. Meine Bezüge sind die Tantiemen, die dank eines treugebliebenen Publikums bis heute anhalten.«

Thomas Natschinski – »Mein Herz muss barfuß gehen«

Aber nicht nur Teile seines Publikums blieben ihm treu, auch er blieb einem Teil seiner selbst treu, eben jenem besonders dunklen und problematischen seiner sowieso nicht eben einfachen und im direkten Umgang nur schwer zu ertragenden Persönlichkeit. Wenn Klaus Demmler als Interpret seiner eigenen Lieder in Erscheinung trat, dann zumeist mit Liebesliedern. Seiner Schwäche für das weibliche Geschlecht hat er in unzähligen Texten gehuldigt, und dabei durchaus offensichtlich gemacht, dass es ihm dabei vielfach darum ging, eine Frau zu »erobern« und seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen.

Dass seine Neigung dabei vor allem auch ganz jungen Frauen galt, zu jungen, noch nicht einmal sechzehnjährigen Mädchen, war in der DDR wohl bekannt; Demmler wurde oft von Schülerinnen begleitet und seine Freundinnen waren in der Regel sehr jung. Welchen »Reiz« diese auf ihn ausübten, auch das hatte er in einem Lied (»Noch nicht sechzehn«) beschrieben: »Ach, man wird nicht minder schon durch so ein Mädchen angemacht«. Dass er diesem Reiz nicht widerstehen konnte und wollte und seine besondere Position nutzte, um minderjährige Mädchen – in welcher Form auch immer – sexuell zu benutzen, dieser Verdacht tauchte schon 1985 auf, als Demmler sich bei seinen »Liedern des kleinen Prinzen« von einer erst dreizehnjährigen Sängerin begleiten ließ.

»Mädchen sterben scheibchenweise« [private Interpretation]

Aufgrund mehrerer Anzeigen von Frauen, die zwischen 1995 und 1999 als junge Mädchen bei ihm Privatunterricht hatten oder zum Vorsingen kamen, wurde Anklage gegen Demmler erhoben und er am 4. August 2008 in Untersuchungshaft genommen. Schon 2002 hatte es einen Strafbefehl wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern gegen ihn gegeben, damals war er mit einer Geldstrafe davongekommen.

Die Hauptverhandlung gegen Kurt Demmler vor dem Berliner Landgericht begann am 22. Januar 2009. Demmler selbst äußerte sich nicht zu den Beschuldigungen, musste aber aufgrund der angekündigten Beweise davon ausgehen, dass er diesmal nicht so glimpflich davon kommen würde. Der Mann, der sich nicht mehr gebraucht fühlte, würde wohl wegen Missbrauchs verurteilt werden und im öffentlichen Bewusstsein folglich nur noch als Kinderschänder existieren. Eine Vision, die dem einst so Aufrechten und Geachteten das Genick brechen musste, eine Konfrontation mit einer verdrängten Realität, der er sich nicht weiter aussetzen wollte. Kurt Demmler war am Ende, und dieses Ende wollte er selbst beschließen. Am Morgen des 3. Februar 2009, des zweiten Verhandlungstages, fand man ihn erhängt in seiner Zelle.

Dirk Michaelis (Karussell) – »Wie ein Fischlein unterm Eis«

Geht man davon aus, und vieles spricht dafür, dass die Vorwürfe gegen Kurt Demmler berechtigt sind, so wirft dies einen Schatten auch auf seine Texte. Seine Lieder für Kinder und mit Kindern stellen sich quasi selbst infrage, seine oft formulierte »Liebe zu den Mädchen« bekommt einen bitteren Beigeschmack, und andere Texte, in denen er Würde und Ehrlichkeit propagierte, scheinen nun im Widerspruch zu dem, was er selbst praktizierte. Diese Brüche und Widersprüche waren wohl Teil seiner Persönlichkeit und wir können annehmen, dass er sich dessen bewusst war und für sich die ihm mögliche Form gefunden hatte, mit diesen Widersprüchen zu leben. Wir müssen ihm vorhalten, dass er so zuwenig getan hat, um Schaden von anderen Menschen zu nehmen und ihnen kein Leid zuzufügen, aber wir haben ihn nicht zu verurteilen. Wir dürfen auf unsere eigenen Schatten und Widersprüche blicken.

Maschine (Puhdys) & Wolfgang Nidecken (Bap) – »Leben ist kurz«

Wohl eher haben wir Grund, traurig zu sein, traurig angesichts der Größe und Weite eines Menschen in seinen kreativen Werken und der Ohnmacht und Beschränktheit desselben in seinem menschlichen Wirken. Der Schauspieler und Musiker Jan Josef Liefers wurde aufgrund der Anklage gegen Demmler gefragt, ob er denn dessen Lied »Mein Herz soll ein Wasser sein« nicht aus seinem Repertoire streichen wolle. Liefers sagte darauf: »Was kann der herrliche Text des wunderbaren Liedes für die verwerflichen Entgleisungen des Menschen Demmler?«

Jan Josef Liefers – »Mein Herz soll ein Wasser sein«

Wahrscheinlich hat Kurt Demmler selbst die passendsten Worte für die Tragik seines eigenen Lebens gefunden:

Leben ist kurz, Tod ist lang
Tod ist Schweigen, Leben Gesang
Doch kehrt schon hier das Schweigen ein
Wollt ich nicht mehr am Leben sein
(Kurt Demmler)

Alle Liedtexte der hier verwendeten Links stammen von Kurt Demmler. »Mein Herz muss barfuß gehen«, ein Titel, der sein Lebensmotto hätte sein können, wurde von Kurt Demmler selbst interpretiert, ist aber im Internet nicht verfügbar, wie es zur Zeit sowieso so gut wie keine Ton- oder Filmdokumente von Kurt Demmler gibt; auf die meisten davon habe ich hier verlinkt. Die Version von Thomas Natschinski, überhaupt die einzige, die ich finden konnte, weicht musikalisch erheblich von der Demmlers ab.

Die verwendeten Informationen stammen aus verschiedenen Quellen. Diese habe ich im einzelnen nicht auf ihre Verlässlichkeit hin überprüfen können, habe mich aber gewissenhaft bemüht, keine bloßen Annahmen und Behauptungen zu übernehmen, sondern nur auf offenbar belegte Tatsachen und auf Aussagen zurückzugreifen, deren Authentizität mir vertrauenswürdig erscheint. Dies, um dem Menschen Kurt Demmler – in seiner ganzen Widersprüchlichkeit – möglichst gerecht zu werden.

2 Gedanken zu “Kurt Demmler – »Mein Herz muss barfuß gehen«

  1. Elisabeth Schneider sagt:

    Mir gefällt Ihr Kommentar sehr gut!
    Besonders Demmlers lyrische Texte berühren mich, z.B. „Mein Herz muß barfuß gehen“ und „Wer bin ich und wer bist Du“ oder „Liebeslied am Schluss“.
    Einige seiner Platten sind auch jetzt noch auf CD erhältlich (Mein Herz muß barfuß gehen, Windsandundsternelieder, Verse auf Sex Beinen, Lieder des kleinen Prinzen), manche aber nicht als Neuware.
    Für mich ist Demmler einer der besten Liedermacher und Liedtexter unserer Zeit und es tut mir unendlich leid, wie er sein Leben beendet hat. Wie verzweifelt muss er gewesen sein.
    Schade, dass ich manche Lieder über junge (Schul-)Mädchen nicht mehr so unbefangen wie früher hören kann.
    Mir gefällt, wie vorsichtig und behutsam Sie auch seine dunkle Seite dem Genie (und im Texten war er das meiner Meinung nach) gegenüber stellen. Schade, dass nicht alle wie Jan Joseph Liefers die Texte auch heute noch wertschätzen.
    Ich habe im Netz nach den Noten von „Mein Herz muß barfuß gehen“ gesucht, aber leider nirgends gefunden. Die Version von Natschinski gefällt mir persönlich gar nicht.
    Kennen Sie eine Stelle/Buch wo man die Noten bekommen kann?
    VG Li

  2. Henning Sabo sagt:

    Liebe Frau Schneider,
    vielen Dank für Ihre Rückmeldung, bitte entschuldigen Sie, dass ich erst so spät antworte.
    Ich habe mich bemüht, soweit das einem Außenstehenden möglich ist, der Person und dem Wirken Kurt Demmlers einigermaßen gerecht zu werden.
    Er selbst wollte und kann sich nicht mehr äußeren, und bei all dem, was an Informationen zugänglich ist, lässt sich nie genau sagen, wie ehrlich und authentisch sie sind, welche Bedürfnisse dahinter stehen, welche Ziele damit verfolgt werden.
    Was bleibt, sind die Lieder und Texte, die, lässt man sie frei und unbelastet für sich sprechen, eben genau das tun: sie sprechen für sich.
    Seit meiner Recherche von vor fast zwei Jahren scheint sich nicht viel verändert zu haben, noch immer findet sich wenig über ihn und fast keine Aufnahmen von Kurt Demmler selbst.
    Auch ich habe keine weiteren Informationen zu „Mein Herz muss barfuß gehen“ gefunden, Noten nicht, nicht einmal den Text.
    Einige Texte immerhin lassen sich hier auf- und einlesen:
    http://www.golyr.de/kurt-demmler/index-30981.html
    Da die offizielle Internetseite von und über Kurt Demmler seit Jahren nicht mehr existiert, vielleicht bekommt man am ehesten hier entsprechende Informationen:
    http://www.sechzehnzehn.de
    Ein Versuch wäre es wert.
    Herzliche Grüße,
    Henning Sabo

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