Zu erfahren
Wohin
Der Mensch ist ein soziales Wesen, ein »Mensch unter Menschen«. Wir möchten anerkannt, gesehen und geliebt sein, möchten uns einbringen, uns entfalten und lieben dürfen. Um die Geborgenheit von Gruppe und Gemeinschaft zu erfahren, einer »Familie« anzugehören, Freunde und Partner nicht zu verlieren, um aufgenommen zu sein und Ausgrenzung und Zurückweisung zu vermeiden, sind wir bereit, jeglichen Kompromiss auf uns zu nehmen. Auch den, unsere eigene Natur zu verneinen, auch den, wider unser GeWissen zu handeln. Wir haben ein Ideal kreiert, das uns Maßstab, unantastbare Autorität und Motor präventiver Anpassung und permanenter Selbstverleugnung geworden ist: das »Normalsein«, den »Normalmenschen«. Es gibt keinen »normalen Menschen«, keinen einzigen, es hat ihn nie gegeben und es wird ihn nie geben. Er ist eine Fiktion, ein Phantom, ein Konstrukt ohne Herz und Leben, und dennoch sind wir alle darauf ausgerichtet, wie »er« zu sein, dennoch richten wir uns und andere danach, ob wir »normal« sind oder nicht. Unser Ideal ist nicht, wir selbst, also ehrlich und authentisch zu sein, unser ständig behauptetes, stetig bestätigtes Ideal ist es, normal, also unehrlich und nicht authentisch zu sein. Es ist unser Bestreben, als normal zu gelten, und wir fürchten nichts mehr, als bestraft zu werden, würde es publik, dass wir in Wahrheit weder »normal« funktionieren noch »normal« sind.
Die ununterbrochene Reproduktion eines angeblich Normalen in Kultur und Medien, die scheinbare Nicht-Diskriminierung, aber grundlegende Pathologisierung von Andersartigkeit und Abweichung, die permanente Präsenz gesellschaftlicher Kontrolle und Konvention, die Funktionsweise von Existenzbedingungen, Arbeitswelt und Gemeinschaftsleben, unser aller Gewohnheit und Abstumpfung, Feigheit und Ablenkung, Ohnmacht und Frustration – all das sorgt dafür, dass die Schimären der Normalität und der Norm sich immer wieder behaupten und uns bestimmen können, bevor wir noch zu uns selbst und zur Besinnung kommen. Aufbrechende Gegenbewegungen, vorgebliche Selbstverwirklichungen ebenso wie ein vermeintliches »Sich-Ausleben«, sind lediglich auf diese Norm bezogene und von ihr akzeptierte oder geduldete Ventile und Kanäle, in gleicher Weise normiert und standardisiert wie all die Alltäglichkeiten, von denen wir uns darin abgehoben und abgelöst, befreit und unabhängig meinen.
Ich konnte sie nicht ertragen, all die Trugbilder und Scheinwahrheiten, die der Mensch um sich errichtet, in sich aufrecht hält, deren Realität er täglich neu erschafft und weiterbaut, sich darin »ein-richtet« und »aufhält«, sie so vehement gegen Infrage und Zweifel verteidigt. Die Menschheit hat als Norm ein Existieren akzeptiert, das nicht nur auf Lügen und grotesken Behauptungen basiert, nicht nur zwingend und systematisch jedes Leben erniedrigt, ausbeutet und zerstört, sondern den Menschen zu einem Gegner und Konkurrenten seiner selbst erklärt, und uns – Schöpfer all dessen – zu Tätern wie Opfern, zu Sklaven und Erfüllungsgehilfen einer perfiden Logik macht, die unserem Menschsein widerspricht, unser GeWissen hintergeht und unsere Seelen verwüstet. Wie können wir so tun, wie können wir das ertragen? Wie unsere Sinne so auslöschen, wie unseren Verstand so verblenden? Die Antwort habe ich mir selbst gegeben, denn irgendwie habe auch ich irgendwann alles ertragen und mitgetragen. Nicht nur darin geschwiegen, die Lügen bei ihrem Namen zu nennen, nicht nur darin versagt, der Scheinwahrheit entschlossen zu widersprechen, sondern sogar selbst begonnen, diese Realität als Wahrheit anzusehen, Gewohnheiten als Gegebenheiten zu behaupten und Normalitäten als Notwendigkeiten zu verteidigen. Ich habe mich aus meinem Sein herausgeschlichen und diesen Augenblick um mich betrogen. Zurückgezogen in mein Schreiben, wahrhaftig nur in den Gedichten. So bin ich mir selbst schließlich unerträglich geworden.
Da die Mehrheit der Menschen nicht mit der Wahrheit ist, erscheint ein »mit der Wahrheit sein« wie etwas Besonderes. Und da sie so sehr an ihren Täuschungen festhalten, scheint »mit der Wahrheit« gar als ein »gegen die Menschen«. Das quälte mich und machte mir zu schaffen, ich wollte ja mit beiden sein: mit der Wahrheit wie mit den Menschen. Aber nichts brachte sie zusammen. Ich dachte, wenn ich »mitspiele«, ein Stück des Weges mitgehe, dann kann ich Menschen auch dazu bewegen, mit mir gemeinsam die Wahrheit zu schauen, die Richtung ihres Blickes zu ändern und sich dies eine Mal – das würde ja genügen – von ihren Bildern ab- und dem Original zuzuwenden. Es ist mir nicht gelungen. Aus der Wahrheit wurde nur eine weitere ihrer Realitäten, die sie gegeneinander verwenden; sie reduzierten das Absolute auf einen Gegensatz zum Relativen, zu einem neuen Auswechselsteinchen im Kaleidoskop ihrer Polaritäten und Vorstellungen. Die Täuschung kennt die Wahrheit, sie weiß, sie zu erkennen; also will sie sie nicht kennen lernen. Ich aber brannte darauf, sie immer tiefer zu erkennen, sie immer weiter kennen zu lernen; ich musste also ihrem Leuchten folgen. Und so die Menschen lassen, die ich zwar liebte, doch zwischen denen ich erstickte, jenes Leben verlassen, das zwar genauso Wahrheit war wie jedes andere, in dem wahrhaftig zu sein mir aber nicht möglich schien.
Der einzige Mensch, der jeden Augenblick mit mir zusammen ist und der mein ganzes Leben mit mir teilen wird, bin ich selbst. Einzige Instanz, die immer wacht und niemals schläft, die alles weiß und alles sieht, die einzige Autorität, der ich verpflichtet und ergeben bin, der ich nichts vormachen, die ich nicht hintergehen kann, ist mein Gewahrsein, mein GeWissen, meine Wahrnehmung. Mich um Entfaltung und Verwirklichung meiner selbst zu kümmern, mich selbst zu achten und zu lieben, meinen Bedürfnissen und Eigenheiten gemäß zu leben, meinem Wesen Ausdruck zu verleihen, all das ist weder egoistisch noch unsozial, sondern Demut gegenüber meiner Berufung und Erfüllung dessen, wofür ich in diesem Leben bin. Mich fiktiven Normen unterwerfen, anderen Menschen – also den von mir ihnen unterstellten Ansprüchen und Wünschen – »zuliebe« sein, mich selbst verleugnen, mein GeWissen betrügen, hat nichts mit Nächstenliebe oder Verantwortung zu tun; es ist ein Akt der Feigheit und der Resignation. Wenn ich meinem GeWissen diene, mein Sein mit Selbstverstand und Augenblicklichkeit erfülle, mir treu und mir selbst gegenüber echt und authentisch bin, nur dann bin ich authentisch und echt auch für andere Menschen, nur so kann ich ihnen »zuliebe« sein.
Doch wie jetzt echt und authentisch sein? Gibt es ein Kriterium jenseits von Konvention oder von Vorstellung? Gibt es eine Intuition abseits von Egomanie und Norm? Eine Autorität fern von Moral oder Lustprinzip? Ja, es gibt dieses Innewohnende, Unberührte, Unverletzliche, diesen Wert, der nicht wertet, dieses Maß, das nicht berechnet, dieses Erkennen, das einfach vertraut, dieses Lieben, das keine Bedingungen stellt. Als Autorität ist es GeWissen, als Intuition Wahrnehmung, als Kriterium ist es Selbstverständlichkeit – und als Dasein: dieser Augenblick. Ihm gebe ich Absolution, ihm schenke ich Aufmerksamkeit. So kann sich zeigen, was sich mir zutraut, so kann sich erfahren und bewähren, wer ich bin. Eigenheit darf sich entdecken, Natürlichkeit darf sich entfalten, alles darf – und darf gelassen – sein. Das Leben lebt sich aus und fügt sich seiner Ordnung ein, und Sein bleibt Neugier und Verwunderung. Das ist meine Untergebung – unter das, was ist, unter das, was ich bin.
Dem ich untergeben bin, ist weder »Gegen-Über« noch »Innen«, dem ich untergeben bin, ist die Abwesenheit jeglicher Idee von Irgendetwas oder Irgendjemandem. Da ist keine Vorstellung von mir als Subjekt, als Person oder Persönlichkeit, keine Vorstellung mich umgebender oder mir entgegnender Objekte, Wesen oder »Gegen-Stände«. Kein Nicht-Ich, kein Ich, keinerlei Selbst. Mich dem GeWissen untergeben, dem Leben übergeben, mich hingeben an diesen Augenblick: in Worte fassen, was mein Dasein bewegt. Doch diese Übergabe ist keine Niederlage, diese Untergebung gibt kein Verhältnis an, diese Hingabe ist keine von einem Ich an ein Du. Es gibt kein getrenntes GeWissen, kein separates Leben, keinen einzelnen Augenblick, der etwas anderes wäre oder sein könnte als ich selbst. Ich hebe die Vorstellung von mir auf, gebe mich an mich selbst zurück, gleich der Illusion eines eigenständigen Spiegelbilds, das seinem Ursprung anheimfällt. Es gibt keinen »Anderen«, ob ich ihn Gott oder Nicht-Ich nenne, Sein oder Selbst, das Absolute oder das Nichts.
Das ist sehr subtil, und obwohl zu erkennen, ist es nicht zu verstehen, obwohl zu begreifen, ist es nicht zu erfassen. Das, was sich dem Leben untergibt, ist die in manchen Momenten dennoch gehegte Anmaßung, das Leben bestimmen, kontrollieren und manipulieren zu können. Das, was sich dem GeWissen übergibt, ist das zuweilen dennoch ausgeübte Aburteilen dessen, was ist und dessen, was geschieht, in Qualitäten von gut und schlecht, richtig und falsch. Und das, was sich hingibt an diesen Augenblick, ist das sich immer wieder überlebende Anhaften an das Ideal einer Wahrheit, die etwas Bestimmtes sein soll und etwas Bestimmtes nicht. Aber da ist etwas, was sich vor all diesem gibt und ergibt, und das ist die Idee, auf der jede andere dieser Ideen beruht: die Idee, dass es ein Zweites oder ein Anderes gibt, das getrennt von einem »Ersten« oder »Einen« existiert und ihm entgegen steht. Diese Idee hat keine Wurzel mehr in mir. Es gibt keine Abweichung, also auch keine Übereinstimmung, keine Trennung, also auch keine Vereinigung; es gibt keine Zweiheit, also auch keine Einheit, es gibt kein Anderes, also auch kein Eines. Ich kann nicht mehr scheiden zwischen Wahrheit und Menschen, zwischen mir und anderen, zwischen Übergeordnetem und Untergebenem. Da ist einzig Dies im Gewahrsein seiner selbst.
Meine Untergebung ist keinerlei Vorstellung von oder über etwas, meine Untergebung ist unmittelbare, absolute und bedingungslose Akzeptanz. Akzeptanz dieses Augenblicks, im Wissen, dass dieser Augenblick einzig und ewig ist und dass es keine Zeit außerhalb von ihm gibt. Akzeptanz dessen, was jetzt ist, im Wissen, dass das die reine und vollkommene Wahrheit ist, neben und unabhängig von der es keine andere Wahrheit gibt. Akzeptanz dessen, als was ich gerade erscheine, im Wissen, dass das die erfahrbare und lebbare Realität meiner selbst ist und es weder eine eigentliche Person oder Persönlichkeit noch ein eigenständiges Ego oder Ich gibt. Akzeptanz des alleinigen, einzigen Ist, das weiß, ohne dass da ein Wissen, ein Gewusstes oder ein Wissender ist. Alleinzig Ist.
Fall ich gelassen
Heb ich mich
Auf