Über mein Schreiben (Offenbaren, was ist)

Es ist Gedicht
Das, was ich nicht …

Vielleicht auch doch –
Gerade noch

(Henning Sabo)

Das Schreiben kam über mich an einem Nachmittag im Mai des Jahres 1977. Ich hatte gerade »ferngesehen«, eine Dokumentation über das Abschlachten von Robben. Tief betroffen, verstört wie ein verletztes Tier, wanderte ich in der elterlichen Wohnung hin und her, ohne meinen aufgewühlten Geist befrieden zu können. Die grauenhaften Bilder ließen mich erschüttern, doch allein die simple Tatsache, dass Menschen dies taten, entzog mir den Boden unter den Füßen. Ich konnte das weder begreifen noch fassen. Eine völlige Verzweiflung nahm mich gefangen, ein Schmerz, den nichts zu heilen vermochte, eine Einsamkeit, die ich mit niemandem teilen konnte. Irgendwann setzte ich mich, nahm Papier und einen Stift, und schrieb zwölf Gedichte auf – wie aus dem Nichts.

Die Verzweiflung an dem, was Menschen schaffen und tun, mein Leiden darin und daran, ist Triebfeder und Auslöser des Schreibens geblieben. Dazu aber, bereits in diesen ersten Gedichten, ist etwas völlig anderes getreten: das Abbild meiner eigenen Realitäten, die Wiedergabe meines Empfindens, die Teilhabe an den Selbstverständlichkeiten meines Seins. Das Schauen all jenes wunderbaren Offenbaren, das so viele Menschen offenbar permanent übersehen und ignorieren. Diese Verwunderung und Freude über Reichtum und Fülle, Schönheit und Güte, Dasein und Stille.

Ich entdeckte meine Fähigkeit, zu schreiben, und hatte das Empfinden, auch etwas zu sagen zu haben. War ich also berufen, Schriftsteller zu werden? Zumindest war da nichts sonst, was ich mir hätte vorstellen können. Es gab keine Position, die ich hätte einnehmen, keinen Beruf, den ich hätte ausüben wollen. Schreiben geschah von allein und meine Fantasie war kaum darin zu bremsen, Szenerien für absurd-provokante Bühnenstücke zu entwerfen und Roman-Projekte gigantischen Umfangs zu skizzieren. Ich kaufte mir ein Ringbuch für die Jackentasche, das ich stets mit mir führte und in das ich notierte, was mir in meine Sinne kam und mir erwähnenswert erschien. Doch sobald es ans Ausformulieren und Zusammenführen solcher Texte ging, bemerkte ich ein Fehlen: das der Motivation. Ich mochte Geschichten zwar vor- und erfinden, spürte aber weder Ehrgeiz noch Notwendigkeit, sie auf- und auszuschreiben.

Ganz zu Anfang gab es sie, diese Idee: ein berühmter Autor werden, ein Werk von Weltgeltung schaffen; Klassiker sein, in den Lese- und Geschichtsbüchern stehen; Schulen und Straßen mit meinem Namen. Langsam kam das Begreifen: ich hatte keine Ambitionen, Literatur zu erzeugen und ein »Werk« zu hinterlassen. Ich war kein Erzähler, kein »Schrift-Steller«, ich wollte aus »Schreiben« keinen Beruf machen. Ich wollte bloß schreiben. Da war dies Bedürfnis, etwas mitzuteilen. Nicht »irgendetwas«, sondern Das. Das, was inmitten von allem war, das, in dem all das war, das, worum es doch ging. Das Sichtbare sichtbar, das Unübersehbare unübersehbar machen, nur dafür wollte ich meine Worte verwenden. Nichts behaupten, nichts verkomplizieren, nichts verklären, nichts erfinden. Mich auf den Kern konzentrieren: ihn aller Verhüllung entkleiden; das Wesentliche wesentlich belassen: alles Unwesentliche vermeiden; einzig Essenz bezeugen: mich der Zerstreuung enthalten.

War ich also ein Dichter? Diese Bezeichnung traf es wohl schon besser, und darunter fand ich auch Schwestern und Brüder. Doch mehr in der Vergangenheit denn in der Gegenwart, und eher in fernen Kulturen als in meiner eigenen. Ich sprach von etwas anderem als die meisten, die sich als Dichter verstanden, und ich hatte etwas anderes zu sagen. Als Existenz schien »Dichter« mir die einzig mögliche, doch »Dichter sein« war nichts, womit ich mich identifizierte. Ich wollte gar kein »Etwas« sein und strebte nichts dergleichen an. Mir genügte bloßes »sein« und »Mensch sein« allein; dieses wunderbare Geschenk, unbegreiflich und groß, und schon Berufung genug; ein 24-Stunden-Job auf Lebenszeit, aus dem es kein Entlassen und von dem es keinen Urlaub gab. Warum daraus etwas Bestimmtes herausnehmen und es darüber stellen, warum mir die Fülle vorenthalten, um mich auf ein Beschränktes zu reduzieren? Warum mich als ein Etwas behaupten und definieren, statt dieses Sein einfach wahrzunehmen und dieses Menschsein beständig zu ergründen?

Das, was ich war, war in dieser Gesellschaft nicht vorgesehen, und für das, was ich sein wollte, existierten keine Begrifflichkeiten. In der Welt schien kein Platz für mich und mein Sein, und diese Welt mir kein Platz, um darin zu sein. Leben war mir so leicht, es ließ mich gewähren, ich ließ es geschehen; nur das Überleben unter den Menschen und ihren Bedingungen war voller Schwere und schien stetig schwerer zu werden – ein Entgegen dem Leben. Doch auf immer wundersame Weise, ohne mein Tun und wie von allein, barg mich das Sein und schuf jene Räume, essenzielle wie existenzielle, die nichts berührte und niemand beengte, und in ihnen, da durfte ich sein. Sein und mich geben, gewahr sein und schreiben. Hatte ich zu Anfang dieses »Schreiben über« geübt und das »Beschreiben von« angestrebt, so wurde ich nach und nach von einem »Schreiben aus« absorbiert, von einem Schreiben aus dem Augenblick. Bücher schreiben, veröffentlichen, Beruf und Berufung, Geschichte und Geschichten – all das trat in den Hintergrund und es blieb einzig: dieser Moment. Dieser Moment, sein Sein, seine Präsenz, das Wunder dieses Augenblicks, der alles bewahrte wie es verschenkte, nichts vorenthielt und niemals fehlte, der alles in sich barg und durch sich offenbarte. All das Vollkommene, für das ich nur so ferne, fragmentäre Worte hatte: Wahrheit, Schönheit, Sein und Liebe. Den Augenblick erfassen und ihn wiedergeben – das wollte ich sein, dem sollte mein Schreiben dienen.

So wurden meine Werke immer kürzer und meine Worte immer weniger. Sie sollten nichts darstellen oder verkörpern, ich wollte mit ihnen nichts beweisen oder begründen. Ich wollte mich ganz diesem gegenwärtigen Augenblick geben, ohne ihm etwas hinzuzufügen oder wegzunehmen – und das sollten auch meine Gedichte erfüllen. Nicht einer fiktiven Form entsprechen noch einem erhobenen Anspruch genügen. Vollkommenheit war nichts, das ich erfinden musste, Vollkommenheit war das, das ich vorzufinden wagte; Vollendung war nichts, das ich erschaffen konnte, Vollendung war das, dem ich mich hingeben durfte. Ich wollte kein (wie auch immer geartetes) Werk erzeugen, es genügte mir, ein Werkzeug zu sein und in meinen Gedichten zum Zeugen und Bezeugenden dieses einen Augenblicks der Wahrheit zu werden. Den Mut haben, ihn jetzt hier offen zu legen, und die Demut, ihn einfach stehen zu lassen. Der Moment bedarf keiner Geschichte, die Offenbarung keiner Einbettung in eine Erklärung. Meine Poesie ist nicht Ausbreitung, sondern Einladung.

Meine Einladung ist, zu lauschen: zu lauschen, was bereits hörbar ist. Meine Aufforderung ist, zu schauen: zu schauen, was nicht übersehbar ist. Meine Ermutigung ist, es sein zu lassen: es sein zu lassen und dem Sein zu gestatten, dass es sich von selbst erfüllt. Das Leben, auch das unsere, lebt aus sich selbst. Wir brauchen nicht einzugreifen, uns nicht einzumischen, weder vorzubeugen noch nachzubessern. Es zu müssen, was für ein Irrtum! Es zu können, was für eine Illusion! Wir führen kein Leben, wenn wir es führen. Führen meint Manipulieren, aber wirkliches Führen ist Anvertrauen. Wir dürfen dem Leben vertrauen und uns ihm anvertrauen. Wir dürfen wach, frisch und neugierig bleiben und all den ImPulsen folgen – ob sie scheinbar von innen oder scheinbar von außen kommen. Wir müssen nicht für das Schlagen unseres Herzens sorgen. Und brauchen uns ebenso wenig um die Entfaltung unseres Daseins zu kümmern. Meine Einladung ist, diesem Augenblick zu erlauben, dir zu zeigen, wer Du bist. Wie reich, wie schön, wie vollkommen Du bist. Wie liebend Du bist. Und dass da nichts »anderes« ist. Nichts anderes als genau eben Dies. Dies ist mein Sein, und auch mein Schreiben ist dies. Ich bin – und also schreibe ich. Und schreibe nichts anderes als immer wieder in genau diesem Augenblick genau eben Dies. Das ist alles.

Wenn meine Worte
Nicht mehr Wahrheit sind
Dann ist mein Atem
Nicht mehr Leben

(Henning Sabo)

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