Glücklich schätzen

Wir werden uns immer wieder treffen an so einem Punkt, den der Eine mit wenigen Schritten erreicht haben wird, während der Andere dafür hundert Kilometer zurücklegen muss.

Dem Einen wird es vielleicht missfallen, dass der Andere erst auf den letzten Drücker zum Treffen erscheint. »Und wie der wieder aussieht, verschmutzt und verschwitzt, so, als hätte er eine große Wanderung hinter sich gebracht! Zumindest ein bisschen Deo hätte er anlegen können!« Und auch das wird dem Einen wohl sauer aufstoßen, dass der Andere so eine großartige Sache daraus macht, dass er überhaupt gekommen ist. Als wäre das nicht schlicht selbstverständlich und schließlich gar nichts besonderes. »Manche Menschen brauchen eben die große Show und das Gefühl, im Mittelpunkt zu stehen!«

Dem Anderen dagegen wird vielleicht auffallen, wie gereizt und ungeduldig der Eine ist. »Und wie hochnäsig der mich behandelt! Kein Wort des Dankes oder der Anerkennung, dass ich es noch rechtzeitig geschafft habe! Und die Strapazen, die ich dafür auf mich genommen, die Gefahren, die ich durchgestanden habe! Der tut ja gerade so, als wären es nur ein paar Schritte bis hierher!« Und so mag es dem Anderen erscheinen, als würde der Eine ihn bewusst ignorieren und ihn gar nicht recht wahrnehmen. »Manche Menschen halten sich eben für etwas Besonderes und glauben, andere beurteilen zu dürfen!«

Je nachdem, zu welchen Themen wir uns treffen, werden wir manchmal der Eine, manchmal der Andere sein. Wir werden uns ungerecht behandelt fühlen – und wir werden ungerecht behandeln.

Vielleicht täte ein wenig Respekt ganz gut. Eine Würdigung des Menschen als Mensch. Eine Anerkennung des Weges, den jeder gegangen ist, der Überwindungen, die jeder auf sich genommen hat. Ein wenig Liebe dafür, dass wir jetzt da sind. Und ein wenig Zärtlichkeit dafür, dass wir so sind, wie wir sind.

Dann wäre es gleich, ob wir als der Eine oder als der Andere erscheinen. In jedem Fall: wir könnten uns glücklich schätzen.

(Henning Sabo)

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