Gestern vor einem Jahr hatte eine liebenswerte Frau beschlossen, in einen realen Fluss einzutauchen, um so endgültig aus dem Fluss des Lebens zu treten.
Einige Wochen zuvor hatte ich einen kurzen Briefwechsel mit ihren Eltern, die ich einmal kennengelernt hatte; auch sie sehr liebenswerte Menschen. Sie waren in großer Sorge um ihre Tochter, die schon mehrfach bekundet hatte, nicht mehr leben zu können und leben zu wollen, und die nun ihnen gegenüber geäußert hatte, zu mir fahren zu wollen, um dort »auf den Tod zu warten«.
Ich selbst war zu dieser Zeit mitten in drei Umzügen, psychisch und physisch seit Monaten am Limit und ohne Möglichkeit, mich einmal grundlegend zu erholen.
Wenn ich mit ihr telefonierte, hatte ich jedes Mal das Gefühl, dass sie schon nicht mehr hier, nicht mehr auf der Seite des Lebens war. Ich prüfte diese Empfindung immer wieder, und auch, ob es da den kleinsten Impuls gab, zu ihr zu fahren und dort etwas für sie zu tun – außer dem, dass ich ihr von hier immer wieder Liebe und Energie »schickte«. Hätte ich da irgendetwas gespürt, ich hätte alles stehen und liegen gelassen und hätte sie sofort aufgesucht.
Ich informierte Menschen, die geografisch in ihrer Nähe waren und bat sie, sich mit ihr in Verbindung zu setzen, nach ihr zu schauen und ihr ihre Hilfe anzubieten.
Da ich ja sowieso vor hatte, in meiner neuen Wohnstatt einen Raum für Gäste einzurichten, versprach ich ihr, dass sie, sobald dieser zur Verfügung stände, dort wohnen könne. Sollten weder ich noch dieser Raum in der Lage sein, sie von ihrer Entscheidung abbringen zu können, und sollte ich zu der Gewissheit gelangen, dass es nichts gäbe, was sie am Leben hielte und dass sie fest entschlossen sei, ihren Tod herbeizuführen, dann würde ich mich dem nicht entgegenstellen – auch das hatte ich ihr versprochen.
Drei Monate, das war der Zeitraum, den sie dafür überbrücken musste, der Zeitraum, in dem ich ihr keinerlei physischen Raum zur Verfügung stellen konnte und wohl auch keine Kraft und keine Möglichkeit hatte, mich entscheidend um sie zu kümmern. Ich bat sie, diesen Zeitraum irgendwie zu überstehen – danach wäre es mir (wieder) möglich, mich ganz ihr zu widmen.
Die Hälfte dieses Zeitraums hat sie geschafft, dann ist die Mischung aus permanenten körperlichen Schmerzen, stetig ansteigenden Ängsten und daraus resultierender Ausweglosigkeit wohl zu übermächtig geworden.
Dass es daraufhin zur endgültigen Umsetzung ihrer Ankündigung gekommen ist, könnte man im Nachhinein als eine »Verkettung unglücklicher Umstände« bezeichnen, ebenso, wie jeder, der zuletzt mit ihr Kontakt hatte, sich vorwerfen könnte, »zu wenig« oder »das Falsche« getan zu haben. Nun, ich halte nichts von solchen Interpretationen; mir schien es immer, als sei es bereits »entschieden«. Nicht deshalb, weil irgendein blindes Schicksal oder eine omnipotente Macht es so festgelegt hatte, sondern weil es so kommen würde, weil es so war – aber auch immer mit der Option, dass es sich plötzlich vollkommen verändern und umkehren könnte.
So habe ich es wohl auch ihren Eltern damals mit diesem Brief hier begreiflich zu machen versucht:
Vor etwa zehn Jahren habe ich einmal eine Frau – wir hatten nur kurz Kontakt – kennengelernt, die mir bei einem gemeinsamen Essen aus ihrem Leben erzählte. Sie bezeichnete sich selbst als »depressiv veranlagt«, etwas, das sie ihr ganzes Leben über begleitet hatte. Es gab Zeiten, in denen sie nur »irgendwie funktionierte« und es gab Zeiten, in denen sie von einer Endlosschleife selbstzerstörerischer Gedanken erfasst wurde, die sie immer tiefer vereinnahmte und in eine bodenlose Hoffnungslosigkeit stürzte; und eine Befreiung daraus schien ihr nur möglich, indem sie ihr Leben beendete. Nach über dreißig Jahren »Gefangenschaft« in diesem Auf und Ab hatte sie schließlich genug. Sie maß bei ihrem Auto den Durchmesser des Auspuffs und die Entfernung zum Seitenfenster, kaufte sich einen passenden Schlauch und fuhr in einen nahegelegenen Wald. Das eine Ende des Schlauchs stülpte sie über den Auspuff, das andere klemmte sie fest in das Fenster. Dann setzte sie sich wieder hinter das Steuer und betätigte den Anlasser. In genau diesem Moment machte etwas »Klick« in ihr. Eben noch fest entschlossen, ihrem Leben ein Ende zu setzen, war sie sich jetzt mit einem Mal vollkommen bewusst und gewiss, dass der Schalter umgelegt und ein für alle Mal alles vorbei und beendet war. Sie stellte den Motor wieder aus, zog den Schlauch wieder ab und kehrte wieder nach Hause und in ihr Leben zurück. Aber es war ein anderes Leben und auch sie war eine andere geworden – und die Depression hatte nie wieder eine Chance, sie zu verführen.
Wahrscheinlich kennt jeder von uns einige Menschen, die wir den »depressiv veranlagten« zurechnen könnten. Für mich gehört meine Mutter dazu, ein Freund, den ich schon mehr als dreißig Jahre kenne, und eben auch U*. Der Perfektion, mit der in diesen Menschen ein scheinbar unzerstörbarer Mechanismus dafür sorgt, ausschließlich negative und selbstzerstörerische Aspekte wahrzunehmen und zu verstärken, und der untrüglichen Intuition, mit der sie alles Positive und Selbstbestärkende vermeiden und gar nicht erst in ihre Nähe kommen lassen, stehe ich immer mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Faszination gegenüber. Ihre eingespielten und festgefügten Denk- und Verhaltensweisen scheinen immun gegen jede Art von Andersausrichtung und Veränderung und resistent gegen jede Form von Berührung und Beeinflussung. Sie leben wie in einer abgeschotteten und in sich abgeschlossenen Welt, zu der es für Außensehende keinen Zugang zu geben scheint.
Ich spüre die Sensibilität und Verletzlichkeit dieser Menschen, die ich gut kenne, denn es ist auch die meine; ich spüre ihre Fremdheit und Verlassenheit in der Welt und unter den Menschen, die ich ebenso kenne, denn es ist meine eigene; und ich spüre die unerfüllte und unerfüllbare Sehnsucht nach Heimat und Geborgenheit, und auch die ist mir gut bekannt. Ich kann sehr viel teilen mit diesen Menschen, kann empfinden, was sie empfinden, ich weiß und fühle sie nahe meinem Herzen. Selbst jenes Gefühl des Trudelns, Stürzens und Fallens ist mir bekannt, aber gleichzeitig und tiefer noch ist mir ein Gefühl, nein, eine Gewissheit ganz innigst präsent und vertraut, die eines unverletzlichen Aufgehobenseins. Ich kann fallen, ja, aber ich kann in nichts anderes fallen als in die Aufgehobenheit meiner Selbst. Ich bin verletzlich, ja, aber ich bin verletzlich in der Gewissheit einer unergründlichen Unverletzlichkeit. Ich weiß nicht, warum mir dies geschenkt worden ist, und ich weiß nicht, wo und ob ich noch wäre, wäre es das nicht. Ich weiß nicht, warum sich gerade in mir diese scheinbar so gegensätzlichen Komponenten vereint haben, aber ich weiß, dass das die Quelle meiner Kreativität ist und mir ein Empfinden und Sehen in einer Klarheit, Stille und Intensität schenkt, die ich um nichts auf der Welt missen und eintauschen möchte.
Wie gerne würde ich diesen Menschen, für die ich so viel Zärtlichkeit und Nähe empfinde, etwas von jener – für mich ja so selbstverständlichen und nicht zu entfernenden – Aufgehobenheit und Unverletzlichkeit schenken. Wie sehr habe ich mir immer gewünscht, dass sie, mit denen ich so viel teilen kann, mit mir diese Gewissheit teilen können, dass sie, die ich so klar schauen und erkennen kann, mit mir diese Stille schauen und diesen unerschütterlichen Grund erkennen. Ich habe lernen müssen, bitter lernen müssen, dass das nicht möglich ist, dass ich das weder erzwingen noch bewirken kann. In diesem Bewusstsein und in dieser Gegenwart erfüllt mich tiefes Mitgefühl und eine unsägliche Ohnmacht. Mir ist, als legte ich diesen Menschen einen unermesslichen Schatz vor Augen und zu Füßen, doch sie sehen darin nur Schatten und Fallen, als offenbarte ich ihnen die tiefste der Wahrheiten, legte ihnen das größte der Wunder zu Herzen, doch ihnen erscheinen bloß Wunden und Lügen.
Das hat mich etwas gelehrt, einen Respekt – eine Art Demut – vor dem Recht eines jeden Menschen, so zu sein, wie er ist. Sein Recht, zu fühlen, wie er fühlt, zu denken, wie er denkt, zu handeln, wie er handelt. Diesen Respekt darf ich ihm nicht nehmen, auch dann nicht, wenn ich das, was er ist und tut, nicht gutheißen und nicht mit meinem Gewissen vereinbaren kann. Dieser Respekt schließt auch das Recht jedes Menschen nicht aus, sein Potenzial nicht zu verwirklichen und sein Sein und Dasein zu zerstören; auch wenn mir das äußerst schwer fällt und mir unendlich weh tut. Es ist Teil der Freiheit des Menschen und seines Rechtes auf Selbstbestimmung; auch dann, wenn ich glaube, dass es eher einer Unfreiheit entspringt und durch alles andere als durch sich selbst bestimmt wird. Meine Freiheit und meine Bestimmung bestehen darin, dem – durch meine Person und durch mein Handeln – eine Alternative zur Seite zu stellen, ein selbstbewusstes und selbstverständliches Angebot, das zeigt, dass es auch anders geht. Das keinen Anspruch erhebt, es besser zu wissen und es besser zu machen, sondern das einfach nur teilt, was es erfahren und erkannt zu haben glaubt. Das nicht bewertet oder verurteilt, sondern einfach vom eigenen Sein und vom eigenen Glück erzählt.
Wenn ich mit U* spreche, dann versuche ich, mich weder in das Spiel ihrer sich selbst erzeugenden Gedankengänge und deren Logiken und Schlussfolgerungen zu begeben, noch mich in jene Konfrontation locken zu lassen, die es ihr erlaubt, sich von mir abzugrenzen und ihre Stellung zu verteidigen. Ich versuche, ihr einfach einen Raum zu öffnen und offen zu halten, in dem ihre »bewährten« Strategien keinen Ansatzpunkt, ihr sich im immer gleichen Kreis drehendes Schiff keinen Ankerplatz findet. Ich versuche, ihr diesen Raum zu beschreiben, ihn für sie sichtbar und fühlbar zu machen – und ebenso selbst dieser Raum zu sein. Ich lade sie ein, diesen Raum zu betreten und ihn zu erkunden. Ich bestätige und bekräftige ihr immer wieder die Gewissheit, dass dieser Raum überall da ist und jederzeit für sie offen steht. Dass er ihr keine Bedingungen stellt, keinen Eintritt verlangt und kein Urteil über sie fällt. Dieser Raum spricht sie nicht unheil und unheilig, indem er ihr Heilung verspricht, noch fordert er vor ihr eine »Besserung« und erklärt sie damit für »schlecht« und »nicht in (der) Ordnung«. Dieser Raum ist einfach nur da und er verspricht auch nichts anderes, als dass er da ist, dass sie darin immer willkommen und angenommen ist und dass sie nie daraus verbannt oder ausgeschlossen werden wird. Das »hilft« ihr nicht in einem Sinne, der sie zu einer Hilfsbedürftigen macht, sondern das respektiert sie in ihrer Freiheit und in ihrem Recht, so zu fühlen, wie sie fühlt, so zu denken, wie sie denkt, so zu handeln, wie sie handelt, so zu sein, wie sie ist. Es bedrängt sie nicht und zwingt sie somit auch nicht in ihre herkömmlichen Re-Aktionen und gewohnten Verteidigungen und Rechtfertigungen. Es überlässt es ihrer »Reife« und »Fälligkeit« – die sich sowohl aus Erkennen und Akzeptieren wie auch aus Verzweiflung und Verweigerung ergeben kann – und dem Grad ihrer Sehnsucht nach Befreiung, diesen Raum wahrzunehmen und anzunehmen, in ihn einzutreten und sich ihm anzuvertrauen.
Ich habe für mich geprüft, ob ich eine Notwendigkeit empfinde, U* jetzt zu besuchen, ob es einen unmittelbaren Impuls in mir gibt, der mir sagt, »Du musst da jetzt hin, Du musst vor Ort und bei ihr sein«. Da war, da ist kein derartiger Impuls, im Gegenteil, da ist ein sehr bestimmtes Gefühl, ihren Wunsch nach BegLeitung derzeit nicht zu bedienen und sie in ihrem jetzigen Dilemma und in ihrer Panik darüber – mit allen Eventualitäten und Gefahren – allein zu lassen, um ihr so die Chance zu geben, sich selbst dem Leben und seinem Wirken »zu übergeben«. Ebenso notwendig und stimmig aber erscheint es mir, ihr die Vision eines nicht nur psychischen, sondern auch physischen Raumes zu geben und zu bestätigen, in dem sie zu gegebener Zeit Zuflucht finden kann. Diesen Raum habe ich ihr zu dem Datum versprochen, zu dem er mir wohl zur Verfügung stehen wird, das wird Anfang Juli sein.
Diesen Raum hat sie für sich als einen Raum interpretiert, der für sie das repräsentiert, was ihr momentan als Lösung und Erlösung erscheint, Sie haben es »auf den Tod warten« genannt. Ich hatte im Gespräch mit U* nicht das Gefühl, dass sie eine reale Vorstellung oder gar einen konkreten Plan davon hat, wie sie sich ihrem Tode nähern oder ihn sogar selbst herbeiführen kann. »Sich aus dem Leben verabschieden« ist für sie derzeit synonym mit einem Sich-Verabschieden aus einer Situation, aus einer Realität, die ihr nicht mehr erträglich und also auch nicht mehr lebbar erscheint.
Ich wünsche ihr sehr, dass sie in sich etwas findet und es zumindest als gleichwertig empfindet, das sie als erhaltens- und lebenswert erkennt und das genügend Motivation, Neugier und Energie freisetzt, um sich über eine Lösung »Tod« hinwegzusetzen und die Erlösung in einem Leben zu suchen. U* ist ein so wunderbarer und wertvoller Mensch, eine weite und schöne Seele, die sich und anderen so viel zu geben hätte. Ich liebe sie sehr und wünsche ihr von ganzem Herzen, dass sie »aufgibt« und »sich einlässt« und dem Leben die Chance gibt, ihr seine Vielfalt und Schönheit zu offenbaren. Ich kann ihr dabei dienlich sein, weil ich ein lebendes und irgendwie überlebendes Beispiel dafür bin, dass man für sich auch in dem, was man als Irrsinn und Bedrohung empfindet, ein sinnvolles und in sich geborgenes Leben begründen und entfalten kann, ohne sich dafür verleugnen und seinem Gewissen zuwider handeln zu müssen. Der Raum, den ich ihr zur Verfügung stellen möchte, kann ihr dienlich sein, weil er der Erfahrung jener Räume widerspricht, die ihr ansonsten für ihr Empfinden von Gesellschaft und Menschen entgegengestellt werden. Es ist kein Raum der Beengung und Bedingung, kein Raum der Nötigung und Erniedrigung, kein Raum der Verurteilung und Überforderung. Es ist ein offener und freier Raum, der ihr gestattet, zu sein, wie sie eben jetzt ist, und sich zu bewegen, wohin es sie eben jetzt bewegt. Dennoch liegt es allein an ihr, ob sie diesen Raum erkennt und betritt, und ob sie diesen Raum benutzt, um frei zu werden, oder ob sie ihn benutzt, um sich gefangen zu halten.
Eine Chemotherapie besiegt den Krebs nicht, sie unterdrückt ihn nur für eine gewisse Zeit. Eine psychiatrische Behandlung entfernt eine »depressive Veranlagung« nicht, sie hält sie nur im Hintergrund. Dennoch kann diese Veranlagung jederzeit wieder »ausbrechen«. Eine solche Behandlung mag eine Methode sein, sich – zumeist mit der Unterstützung von Psychopharmaka – mehr oder weniger »ruhig zu stellen« und nach außen hin zu funktionieren, aber sie gibt der Seele keinen wirklichen und dauerhaften Frieden. Dafür bedarf es offensichtlich eines solchen »Klicks«, einer plötzlichen Umstellung des »Hauptschalters«. Worin diese Umstellung besteht, warum und wie sie geschieht, das ist wohl ein Mysterium und wird es auch bleiben. Auch lässt sich so ein »Klick« nicht willentlich hervorrufen oder erzeugen, eine Umstellung nicht provozieren oder forcieren. Ich glaube aber, dass es möglich ist, diesen »Klick« bewusst einzuladen und ihn herzlich willkommen zu heißen, wie es auch möglich ist, ein Umfeld zu kreieren, das einer solchen Umstellung den notwendigen Raum und eine wertfreie Selbstverständlichkeit gibt. Dieses Umfeld ist für mich eben jener Raum, der einem Menschen vollkommen offen steht und der ihn bedingungslos an- und aufnimmt. Diesen Raum psychisch zu geben und ihn physisch zur Verfügung zu stellen, das ist das, was ich U* anbieten kann, physisch aber eben leider erst in ein paar Wochen.
»Auf den Tod warten« ist nicht das schlechteste, es ist alle Mal besser, als den Tod herbeiführen. Ebenso ist es besser, als gegen das Leben anzukämpfen. Auf den Tod warten und nebenbei vergessen, die gewohnten Muster und Strategien anzuwenden, auf den Tod warten, »es sein lassen« und nichts mehr unternehmen, um das Leben und sich selbst in den Griff und unter Kontrolle zu bekommen, das gibt dem Leben zumindest die Chance, sich zu offenbaren und durch den so »Sterbenden« hindurch zu wirken und sich selbst neu zu entdecken. Darauf immerhin dürfen wir auch bei U* noch hoffen.
Von Herzen,
Henning Sabo