Durchfahrt

»Achtung an Gleis 4, ein Zug fährt durch!« Gleis 4?, dachte ich, das sind doch wir! Ich schaute, etwas beunruhigt, hinaus auf den Bahnsteig, und tatsächlich, da stand eine 4; daneben eine Uhr und die Zeit unserer Abfahrt, und die war erst in vier Minuten geplant. Hm, dachte ich, es wird sich wohl um ein Versehen handeln, und lehnte mich wieder zurück in meinen Sitz.

Doch dann ertönte die Durchsage erneut: »Achtung an Gleis 4, ein Zug fährt durch!« Diesmal stand ich auf, schob das Fenster hinunter und streckte meinen Kopf hinaus. Ich blickte nach vorne zur Lok, die ruhig und abwartend dort stand, bereit, uns hinaus aus dem Bahnhof zu ziehen. Ich blickte weiter nach vorne in die Flucht der Gleise, aber so weit ich auch schaute, ich konnte keinen weiteren Zug sonst entdecken, keiner schien heraus zu fahren, keiner schien herein zu kommen. Also schaute ich in die andere Richtung nach hinten, dorthin, wo die Reihung unserer Wagen schließlich endete, kniff die Augen zusammen und versuchte auf den Gleisen bis hin zum Horizont einen herannahenden Zug zu entdecken, doch es war nirgendwo einer zu sehen. Seltsam, dachte ich, doch da auch die Menschen auf dem Bahnsteig sich ganz gewöhnlich und ruhig verhielten, schloss ich das Fenster wieder und setzte mich, etwas unentschieden noch, zurück auf meine Platz. Nein, ich wollte dem jetzt keine Bedeutung mehr schenken und einfach nur wieder meine Augen schließen.

Als es wiederum hieß: »Achtung an Gleis 4, ein Zug fährt durch!«, ließ ich mich dadurch nicht aus der Ruhe bringen, atmete tiefer und tiefer und hielt meine Augen fest geschlossen.

(Henning Sabo)

Sonderbar, aber diese Bahnhofsuhr, deren Sekundenzeiger einen Augenblick lang auf jedem Minutenstrich verharrt, als ob er sich innerlich für einen Moment dem steten Weitergehen entzieht und verweigert, erscheint mir dennoch viel entschlossener und viel energischer als all die ungezählten Uhren, auf denen die Sekundenzeiger mit steter Gleichförmigkeit ihre Kreise und unaufhaltsam vorwärts ziehen.

(Henning Sabo)