Schnee-Erfahrungen

Zu meinen Nachbarn gehört auch ein Ehepaar, das Kind ist aus dem Haus, beide sind berufstätig. Sie ist früher mit einem Werksbus zur Arbeit gefahren, aber seit dieser eingespart wurde, haben sie zwei Autos auf unserem Parkplatz stehen. Ich habe nie verstanden, warum sie zwei Autos brauchen, denn seine Arbeitsstelle ist von uns aus in 10 Minuten zu Fuß zu erreichen.

Letzte Woche ist in unserer Region so viel Schnee gefallen, dass wir in unserem Städtchen regelrecht eingeschneit waren. Die Räumdienste kamen nur langsam voran und die kleineren Straßen, wie jene, an der wir uns befinden, wurden erst als letzte angefahren. Die Zufahrt zu unserem Parkplatz ist zudem so eng, dass alle Bemühungen unserer Autofahrer, sie freizuschaufeln, an der Masse des Schnees scheitern mussten. So blieben ihre Autos, dick mit Schnee bedeckt, nicht nur über das Wochenende auf unserem Parkplatz stehen, sondern waren auch in den folgenden Tagen nicht von dort fortzubewegen. Besagter Nachbar war also gezwungen, nun zu Fuß zur Arbeit zur gehen.

Wie gut, dachte ich, so hat er jetzt die Chance, zu erleben, dass das durchaus möglich ist, und also auch zu erkennen, dass er ein zweites Auto gar nicht braucht. Er kann erfahren, wie schön es ist, zu Fuß zu gehen und auf seinem Weg so viele interessante Dinge zu sehen, vor allem die täglichen Veränderungen all dieses scheinbar immer Gleichen, den Wandel im Verlauf der Jahreszeiten, all die kleinen Zufälligkeiten, die gerade vor unseren Augen geschehen und die wir wahrnehmen können, wenn wir nur mit etwas Aufmerksamkeit durch unseren Alltag gehen. Und gerade im Schnee, wenn alles wie unter einer großen Stille liegt und innezuhalten scheint, ist manch Ungesehenes ganz plötzlich erblickt, manch Unerkanntes ganz leichthin entdeckt.

Meinen Nachbarn aber hörte ich alsbald bei jeglicher Gelegenheit höchst erregt über unseren Hausmeisterdienst und über die städtischen Betriebe schimpfen, die nicht in der Lage waren, Parkplatz, Zufahrt und Straßen rechtzeitig vom Schnee zu befreien. Seine Schimpfkanonaden, ich vermute, dass sie auch von entsprechenden Anrufen bei den zuständigen Stellen flankiert wurden, sind schließlich wohl erhört worden, Mitte der Woche hatten alle Dienste ihre Pflicht erfüllt und alles wieder befahrbar gemacht. Am späten Nachmittag ging mein Nachbar mit Eifer daran, nun auch sein Auto – und ebenso das seiner Frau – vom Schnee zu befreien. Und am nächsten Morgen hörte ich wieder einige Minuten den Motor seines Wagens laufen, während er damit beschäftigt war, das Eis von den Scheiben zu kratzen.

So ging ich ins gegenüberliegende Zimmer, zog die Vorhänge vor und öffnete das Fenster. Die Spatzen und Amseln begannen schon ihr Zwitschern und Singen, am Himmel ließ sich bereits die Dämmerung erahnen, die jeden Tag etwas vorzurücken schien, es roch nach einem wundervollen Morgen und ich freute mich darauf, sogleich durch den Schnee zu stapfen und mit allen Sinnen begierig aufzunehmen, was mir die Augenblicke darreichen würden.

(Henning Sabo)

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