Wohin?

Ich wusste, welchen Weg er nehmen würde. Ich wusste den Namen der Straßen, die wir durchfahren, die Bezeichnung der Plätze, die wir überqueren würden. Ich wusste, wo wir nach rechts, und wo wir nach links abbiegen würden; ich wusste, an welchen Sehenswürdigkeiten wir vorbeikommen, welche Gegenden wir meiden würden. Ich wusste, mit welcher Geschwindigkeit wir fahren, wo wir bremsen, wo wir beschleunigen würden. Und ich wusste, wo wir schließlich anhalten würden und wo ich aussteigen und am Ziel sein würde. Nichts war fremd, nichts war unklar, eine Fahrt wie tausend andere, in fester Reihenfolge, nach altem Plan. Es bedurfte keiner Anweisungen, keiner Anmerkungen mehr, denn nichts hatte sich je geändert; der Ort, die Zeit, Abfahrt und Ankunft, alles war stets gleich geblieben. Die Regeln waren festgelegt, die Rollen eingespielt, die Riten Alltag geworden.

Schon war das sanfte Rauschen zu hören, unter den Reifen das Knistern und Klickern der Kiesel, der Wagen stand, der Staub verflüchtigte sich. Ich ging die Treppe hinunter; der Fahrer war ausgestiegen und hielt mir die hintere Tür geöffnet. Wir nickten uns zu und ich nahm auf dem Rücksitz meinen Platz. Ich gab ihm ein Zeichen und er drückte die Tür ins Schloss. Als er sich wieder hinter das Steuer setzte, hatte ich bereits meine Tasche geöffnet, und in das leise Surren des Motors mischte sich das Knistern meiner Papiere. Von Zeit zu Zeit blickte ich auf, um meine Augen abzulenken, sah aus dem Fenster, wenn wir einen Ort passierten, dessen Anblick mir lieb geworden war. Es war ein schöner Tag, in den Gläsern spielte die Sonne, es war ein lichtes, heißes Flimmern, das über allem lag. Die Stadt schien zu blühen, langsam schlenderten die Menschen, ihre Kleider bauschten sich leicht im Wind, manche von ihnen winkten. Die Brunnen glitzerten und beharrlich drang ihr Plätschern durch die Stille, spritzten kleine Wellen auf den heißen Asphalt – Erinnerungen, Erinnerungen an ein Meer, ein Meer, ein Meer …

Wohl lange hatte ich hinausgesehen und gelauscht und plötzlich, als meine Sinne sich wieder klärten, blickte ich eine Landschaft, die ich noch nie zuvor gesehen und die mir ganz und gar fremd war. »Fahrer!«, rief ich erschrocken, aber da war kein Fahrer mehr, ich war es, der fuhr, ich selbst hielt das Steuer in Händen. Ich zitterte, in meinen Augen standen Tränen; ich spürte, wie mein Mund atemlos offen stand, meine Körper in den Sitz gepresst, meine Finger um das Lenkrad geklammert. Ich raste durch eine Allee, mächtig und schwarz wogten die Bäume im Sturm, keine Spur war zu sehen, keine Bahn, aus der Erde gurgelten Quellen, ein prasselnder Regen zerblitzte den Mond, der Weg hatte den Wagen verschlungen, schon brachen die Wellen über mir – und nur der Donner blieb, dieser Donner, der heftiger immer und lauter in meinem Kopfe schlägt; dieser Hall aus tausend Jahren, dieses unendliche Pochen, dieser unstillbare Ruf, der mir, das weiß ich jetzt, die Stirn sprengen wird; dieser Donner, dieses Wort, diese Frage:
Wohin?

(Henning Sabo)

Es gibt in uns ein Sehnen, das stärker ist als alle anderen. Dessen Erfüllen wir aber auch stärker fürchten als alle anderen. In dieses Sehnen müssen wir hineingehen, uns ganz hineingeben – und es vollkommen wirklich machen. Nur wenn wir in ihm die Furcht vor ihm verlieren, werden wir frei sein und glücklich werden.

(Henning Sabo)

Körper sind nichts weiter als materielle Erscheinungsformen von Energie. Alles ist Energie. Weil es Energie ist, ist es in steter Bewegung, es ist keinen Augenblick gleich. Ständig ballen sich Energien zu Körpern, zerfallen Körper zu Energien, lässt Energie neue Körper entstehen und alte vergehen. Körper sind fassbar gewordene Energie, Körper sind sichtbare Energie. Körper sind die Erscheinungsform der Energie in Zeit und Raum.

Was als Körper erscheint, scheint unveränderlich und fest begrenzt, ist aber flüchtig und ständig im Fluss. Energie verdichtet sich und bildet für eine begrenzte Zeit einen Körper aus. Energie bleibt, der Körper geht. Energie verändert sich nicht, alle Körper verändern sich ständig. Das Nicht-Individuelle ist, das Individuelle ist nicht.

(Henning Sabo)

Durchfahrt

»Achtung an Gleis 4, ein Zug fährt durch!« Gleis 4?, dachte ich, das sind doch wir! Ich schaute, etwas beunruhigt, hinaus auf den Bahnsteig, und tatsächlich, da stand eine 4; daneben eine Uhr und die Zeit unserer Abfahrt, und die war erst in vier Minuten geplant. Hm, dachte ich, es wird sich wohl um ein Versehen handeln, und lehnte mich wieder zurück in meinen Sitz.

Doch dann ertönte die Durchsage erneut: »Achtung an Gleis 4, ein Zug fährt durch!« Diesmal stand ich auf, schob das Fenster hinunter und streckte meinen Kopf hinaus. Ich blickte nach vorne zur Lok, die ruhig und abwartend dort stand, bereit, uns hinaus aus dem Bahnhof zu ziehen. Ich blickte weiter nach vorne in die Flucht der Gleise, aber so weit ich auch schaute, ich konnte keinen weiteren Zug sonst entdecken, keiner schien heraus zu fahren, keiner schien herein zu kommen. Also schaute ich in die andere Richtung nach hinten, dorthin, wo die Reihung unserer Wagen schließlich endete, kniff die Augen zusammen und versuchte auf den Gleisen bis hin zum Horizont einen herannahenden Zug zu entdecken, doch es war nirgendwo einer zu sehen. Seltsam, dachte ich, doch da auch die Menschen auf dem Bahnsteig sich ganz gewöhnlich und ruhig verhielten, schloss ich das Fenster wieder und setzte mich, etwas unentschieden noch, zurück auf meine Platz. Nein, ich wollte dem jetzt keine Bedeutung mehr schenken und einfach nur wieder meine Augen schließen.

Als es wiederum hieß: »Achtung an Gleis 4, ein Zug fährt durch!«, ließ ich mich dadurch nicht aus der Ruhe bringen, atmete tiefer und tiefer und hielt meine Augen fest geschlossen.

(Henning Sabo)