Die Lehre des Glases

Heute war es mal wieder an der Zeit, abzuwaschen. Gläser im Besonderen hatten sich angesammelt und waren so reichlich vorhanden, dass ich sie in der Spüle aufstellen musste, um sie alle dort unterzubringen. Da es so viele waren, war auch ein ganz besonderes unter ihnen, das im Schrank immer ganz hinten hinter all den anderen stand und nur höchst selten den Weg in den Alltag und in die Benutzung fand. Es war das Geschenk eines ganz besonderen Menschen gewesen, ein äußert schönes, sehr dünnwandiges, filigranes Glas, das man kaum anzufassen wagte, aus Sorge, dass man es dabei zerbrechen könnte.

Es war das erste, das ich jetzt spülte und säuberte, vorsichtig und umsichtig, mit einer ganz besonderen Aufmerksamkeit, ja, mit einer nahezu liebevollen Zärtlichkeit. Aber als ich es ein letztes Mal in das Wasser tauchte und es zum Abtropfen auf die Ablage stellen wollte, stieß ich es aus Versehen gegen eines der Gläser, die in der Spüle standen: Was für ein Schlag, was für ein Ton! – und beide ließen mich erschrocken, ja, fast entsetzt innehalten.

Ungläubig schaute ich auf das Glas, ungläubig zuerst, weil ärgerlich, hatte ich doch trotz aller Vorsicht nicht aufgepasst und es jetzt wohl kaputt gemacht; dann aber noch einmal ungläubig, denn trotz alledem war es wohl heil und unbeschädigt geblieben. Ich schaute und prüfte von allen Seiten, aber tatsächlich, es hatte keinerlei Schaden davongetragen. Puh, dachte ich, da habe ich wohl noch einmal Glück gehabt.

Dann ergriff ich das Glas, gegen das es geschlagen war, aber als ich es erfasste, spürte ich gleich, dass etwas damit nicht stimmte. Es war ein sehr schweres Glas mit massivem Boden, eines von mehreren, die bei mir beinahe täglich in Benutzung waren. Jetzt aber fühlte es sich sehr instabil an, so, als würde es bei der geringsten Bewegung auseinanderbrechen. Ich umfasste es ganz – und ebenso ganz behutsam – mit beiden Händen, drehte es leicht und ließ das Wasser hinauslaufen. Dann schaute ich es an und sah gleich den Riss, der am oberen Rand entsprang, in einem Bogen bis etwa zur Mitte des Glases führte, sich dort spaltete und in zwei Strängen den Ansatz des Bodens erreichte, sich dort nach beiden Seiten ausbreitete und gewiss bei nächster Gelegenheit komplett durchbrechen würde. Kein Zweifel, das Glas war gesprungen und unbrauchbar geworden.

Als ich es wenig später in einen der Glascontainer warf, dachte ich: Nun, so hat mir das Glas heute wohl eine Lehre erteilt.

(Henning Sabo)

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