Das Wunder der Bulgarischen Stimmen

Als der 1925 in der Suisse Romande geborene Marcel Cellier Anfang der 50er Jahre als Vizedirektor einer Erz- und Metallfirma nach Osteuropa reiste, um dort diverse Rohstoffe einzukaufen, konnte er nicht ahnen, dass er dadurch ganz etwas anderes entdecken und darüber hinaus noch die ganze Welt an seinen Entdeckungen teilhaben lassen würde. Der leidenschaftliche und multitalentierte Musiker, der vor allem den Jazz und die Folklore seiner Heimat liebte und spielte, hat das später einmal so zusammengefasst: »Ich hatte mit Silizium, Kupferminen und Manganerzen zu tun und stieß auf eine Goldmine, nämlich auf die noch lebendige Volksmusik.« Cellier kaufte diverse Aufnahmegeräte und wo immer sie konnten, machten er und seine Frau Catherine Aufnahmen dieser lebendigen Musiktradition – vor allem bei Hochzeiten, zu denen die Fremden herzlich eingeladen und wie Ehrengäste behandelt wurden.

Über die Jahre entstanden so Tausende von Feldaufnahmen und Cellier tauchte immer tiefer ein in diese so faszinierende und vielschichtige Musik, deren eigene Klangfarben und Modulationen für westliche Ohren oft fremd und befremdlich klingen. So wurde er zum Musikethnologen und schließlich zum Musikproduzenten. Mit seiner ersten Entdeckung, dem äußerst begabten, mit viel Seele spielenden jungen rumänischen Panflöten-Virtuosen Gheorghe Zamfir, spielt er 1971 auf seinem Label »Disques Cellier« die Platte – für die er eigens Orgelspielen lernte – »Flute de Pan et Orgue« ein, die weltweit hunderttausendfach verkauft wurde, Zamfir zeitweise zu einem Star machte und die Aufmerksamkeit offener Ohren und Herzen auf die Folklore Osteuropas lenkte.

Cellier wurde nie müde, diese Musik immer weiter zu entdecken und vor allem auch die außergewöhnliche Qualität und den hohen Standard von Musik und Musikern (zumeist Autodidakten) hervorzuheben. Neben Rumänien galt sein Interesse mehr und mehr der Musik Bulgariens, besonders den Gesängen der Frauenchöre. In Bulgarien werden jedes Jahr in den Dörfern Gesangswettbewerbe mit traditionellen Liedern veranstaltet. Die talentiertesten Mädchen und Frauen werden für die renommierten Chöre ausgesucht. Erst dort lernen sie Noten lesen, um die komplizierten Arrangements und Kompositionen der bulgarischen Komponisten interpretieren zu können. In Osteuropa gibt es keine Trennung in sogenannte U- oder E-Musik, die Komponisten haben immer Impulse aus allen musikalischen Traditionen aufgenommen und sowohl für Liturgie, Klassik und Folklore komponiert. Auch moderne Kompositionen basieren auf alten volksmusikalischen Themen, die immer wieder neu arrangiert und interpretiert werden. 1975 veröffentlichte Cellier die Schallplatte »Le Mystère des Voix Bulgares«, in der er dieses Wunder der bulgarischen Stimmen vor Ohren führte. Sehr berührend dies hier, komponiert von Krasimir Kyurkchiyski, Solo Yanka Roupkina:

»Kalimankou Denkou«

»Über ein Jahrtausend lang prägen Drangsale und blutige Geschichte, dazu fünf Jahrhunderte ottomanischer Bedrückung den Gesang der Bulgaren. Als einzige freie Äußerung des Volkes durch die Zeiten hat sich diese Kunst besonders geformt, verfeinert. Aber über den unerhörten Zauber der Melodie, der Harmonie und des Rhythmus hinaus kommt noch etwas hinzu: der Klang. Die charakteristische Klangfarbe der offenen Stimmen non vibrato dieser jungen Bauernmädchen. Denn nicht aus den Musikhochschulen, sondern aus den Bauerndörfern werden die Singstimmen für die a cappella Chöre, die Sie auf dieser Platte hören, von den Chorleitern ausgewählt. …«*

Ein wunderschöner Klassiker, ebenfalls von Krasimir Kyurkchiyski, »Pilence Pee«, der mir in dieser Version fast noch besser gefällt.

»… Mit einer Staunen erregenden Leichtigkeit erklimmen und übersteigen diese Mädchen vom Lande die üblichen, von unseren Konservatorien gesetzten Grenzen der Vokaldisziplin. Monodisch am Anfang, dann eigenartig diaphonisch, entwickelte der bulgarische Gesang seine eigene Polyphonie, die erst im 20. Jahrhundert mit abendländischen Harmoniebegriffen zusammentraf. …«*

»Di Li Do« (Kyrill Stefanov); im zweiten Teil dieser Aufnahme ist zu hören, wie man daraus dann einen modernen Pop-Song macht.

»… Was die bulgarischen Sängerinnen bewahren, haben sie in ihren Dörfern gelernt: die Melismen, Fiorituren, Triller sowie eine hartnäckige Vorliebe für die Sekunde als diaphonischer Intervall. Sobald sie sich zu zwei oder drei zusammenfinden, singen sie solche Sekunden (große, kleine, Viertels- und sogar Achtelssekunden, manchmal tremolo), mit einer mathematischen Genauigkeit. Ein Naturwunder! Eine der Stimmen hält den Grundton – wie beim Dudelsack die Bordunpfeife –, die anderen Stimmen ranken mit ihrer Melodie um diesen Grundton, so nahe wie möglich. Manchmal haarscharf und dann entsteht ein bissiger Atonalismus, sehr im Gegensatz zu unserem traditionellen westlichen Harmoniesystem.«*

»Stani Mi, Maytcho« (Krasimir Kyurkchiyski, Solo Nadejda Chwoineva)

Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie ich diese Gesänge das erste Mal gehört habe. Ich ging noch zur Schule und die Radio-Geräte hatten noch einen runden Knopf, mit dem man die Sender von Hand anwählen musste. Das tat ich eines Nachmittags gewissermaßen im Auftrag meiner Mutter, die eine bestimmte Sendung hören wollte. So drehte ich langsam immer ein Stückchen weiter, lauschte einen Augenblick [einen »Ohrenlausch«], und wenn ich sicher war, noch nicht den richtigen Sender gefunden zu haben, drehte ich wieder behutsam weiter. Plötzlich hörte ich Gesang einer Art, wie ich ihn noch nie zuvor gehört hatte. Ich war, wie man so treffend sagt, sofort »ganz Ohr«, vollkommen gebannt und fasziniert. Was ich da hörte, klang zwar seltsam fremd, doch im gleichen Moment auch auf eine wundersame Weise berührend vertraut. Ich konnte nicht mehr weiterdrehen, ich musst zuende hören und ich musste wissen, um was es sich hier handelte. Glücklicherweise habe ich es sogleich erfahren, denn der Musikredakteur stellte just die Platte »Le Mystère des Voix Bulgares« vor und spielte daraus noch zwei weitere Stücke. Am nächsten Tag bin ich gleich nach der Schule in einen Plattenladen gegangen und habe mir diese Platte gekauft, und mir war bereits nach dem ersten Abhören klar, dass das für mich eine der Platten »für die Insel« sein würde – und sie ist es bist heute geblieben.

Zwei meiner Lieblings-Lieder, das erste von der 1987 veröffentlichten »Le Mystère des Voix Bulgares Vol. 2«. Eine Aufnahme aus dem Jahr 1957, ein traditionelles Lied, bei dem mich gerade dieser harmonische Wechsel von treibendem Rhythmus (bei dem ich nicht still sitzen kann und sofort Lust bekomme, zwei Stunden lang nach diesen Rhythmen zu tanzen) und diesen eher ruhigen, faszinierenden Gesangspassagen immer wieder auf ganz eigene Art berührt: »Ovdoviala Lissitchkata«.

»Mir Stanke Le« (Kosta Koiev), gesungen von Stefka Sabo(!)tinova, bei dessen ersten Tönen ich mich immer sofort in Tränen auflöse.

Ich war von jeher fasziniert von Musik und immer neugierig, etwas Neues und mir noch Unbekanntes lauschend zu entdecken; Gattungen und Einteilungen haben mich nie interessiert. Ich hörte alles und mir war egal, wie es genannt wurde oder ob ich als jemand, der gerne das hörte, unmöglich dies hören oder gut finden durfte; für mich gab es nur ein Kriterium, nämlich ob die Musik mich berührte und etwas mit mir machte. Die Begegnung mit den Bulgarischen Frauenstimmen war eine äußerst intensive und bewegende Erfahrung, und sie öffnete mir das Tor zur Folklore, zur Musik der Völker. Eine Entdeckungsreise, die mir schier Unglaubliches an Herz und Ohren legte, und mich staunend wahrnehmen ließ, wie reich und tief, wie vielfältig, wie schlichtweg fantastisch und atemberaubend gut diese Musik ist, die nur wenige Menschen kennen und auf die viele klassisch-westlich geschulte Musiker und Musikhörer mit Hochmut und Geringschätzung blicken.

Das hier, das von einer 1970 erschienenen Schallplatte mit Namen »Village Music of Bulgaria« stammt, hat es später sogar auf die Goldene Schallplatte der Voyager Mission geschafft, die intelligenten Wesen außerhalb unseres Sonnensystems einen Einblick in die menschliche Kultur vermitteln soll; wirklich ein ergreifendes Lied, gesungen von Valya Balkanska: »Iziel je Delyo haydutin«.

Für mich ist Folklore, die echte, authentische Musik der Völker, vor allem deren Gesänge, der Reichtum der Stimme, über all die Jahrzehnte und in all meiner Beschäftigung mit jeder Art von Musik immer die wesentliche, die eigentliche Musik geblieben, die, die mir unmittelbar am Herzen liegt. Unter dieser ist die bulgarische Musik (wie die des ganzen Balkans) noch einmal eine ganz besondere. Und zweifelsohne sind die bulgarischen Frauenstimmen mit das Schönste und das Berührendste, was der menschlichen Natur und ihrem Bedürfnis, sich musikalisch und gesanglich mitzuteilen, jemals entsprungen ist.

In seiner Sehnsucht und Weite mich immer wieder tief bewegend: »Pritouri Se Planinata«, gesungen wiederum von Stefka Sabotinova.

Hier, und das ist typisch für den osteuropäischen Umgang, bedient sich ein jüngerer Komponist (Yuliyan Slabakov) dieses Liedes, arrangiert es neu und bringt es in eine moderne Fassung, ohne die Wurzeln dabei zu verleugnen oder gar zu kappen. Zuerst war ich noch skeptisch, diese Kleidung (die Strümpfe!), das Klavier eigenartig »verstimmt« …, dann aber haben mich Komposition und Arrangement mehr und mehr für sich eingenommen, und als dann diese junge Solistin (Venetsiya Netsova) zu singen anfing, hat es mich schier umgehauen: Was für eine Stimme! Einfach überirdisch! Was sich noch steigert, sodass ich mich im zweiten Teil wirklich in den Himmel versetzt fühlte und immer wieder fühle. Inzwischen einer meiner absoluten Lieblings-Songs (und für die Insel):

»The Mountain has overturned« (Yuliyan Slabakov, Solo von Venetsiya Netsova)

Wem dieses Lied und seine Interpretation ebenso fasziniert wie mich, der kann es – in einer Studio-Aufnahme – auch auf der CD »50 Years Bulgarian National Radio Children’s Choir« genießen.

Zu wirklich guter Letzt und als Zugabe noch einmal eine neuere Live-Aufnahme von »Kalimankou Denkou«, Solo von Neli Andeeva.

*Alle Zitate stammen von Marcel Cellier aus dem Begleitheft zur CD »Marcel Cellier présente: Le Mystère des Voix Bulgares Volume 1«.

Ein Gedanke zu “Das Wunder der Bulgarischen Stimmen

  1. Thomas Mayer sagt:

    Lieber Henning,

    Das ist, wie alles, was Du schreibst,
    wie alles, was Dich bewegt,
    eine Bereicherung meiner Welt
    und eine wahrhaftige Lebendigmachung meiner Erinnerungen.
    Ich danke Dir herzlichst dafür.

    Dein
    Thomas

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