»Beauty In These Broken Bones« – Weihnachten 2016

Der Link zum Sonntag:

Nein, die Hoffnungen, so wir sie hatten, haben sich nicht bestätigt. Frieden ist nicht eingekehrt, nicht in die Welt noch in die Menschen, nicht in die Herzen noch in das Handeln. Achtung, Menschlichkeit und Lieben vermochten deutliche Zeichen zu setzen, vermögen aber wohl nicht, sich wirklich durch- und in allen Menschen festzusetzen.

Angst, Abgrenzung, Abneigung und offene Aggression dürfen wieder als ehrbare Alternativen erscheinen und sich nicht mehr nur hinter vorgehaltenen Hand allgemeiner Akzeptanz erfreuen.

Angesichts sich weiter verschärfender Konflikte und immer unlösbarer erscheinender Probleme, angesichts eines mehr und mehr um sich greifenden und sich in uns allen verankernden Gefühls von Chaos und Ohnmächtigkeit müssen wir befürchten, dass dieses sensible Gleichgewicht menschlicher Befindlichkeiten noch tiefer erschüttert werden wird.

Menschen mussten und müssen unbeschreibliches Leid erfahren und durch mehr als eine Hölle gehen, deren unerträgliche Realitäten sich all unseren bunten Vorstellungen und abstrakten Phantasien entziehen. Leid, das kein blindes Schicksal über sie legt, sondern Leid, das ihnen von anderen Menschen sehenden Auges und bewusst und willentlich zugefügt wird.

All diesen Verletzten und Geschundenen, den Traumatisierten und (letztlich nur) scheinbar Entkommenen leiht die kanadische Sängerin Sheena Rattai in diesem Lied – einem modernen Spiritual – hier ihr Herz und ihre Stimme. In der verzweifelten Bitte an Höhere Mächte, dass sie herabsteigen und sich der Elenden erbarmen, ihre Schönheit erkennen, ihre Wunden heilen und ihren Geist befreien mögen. Wie sehr ich darin einstimmen und mich dieser Bitte anschließen kann!

Ein Lied in der Tradition klassischer Spirituals mit engen Bezügen zu biblischen Geschichten und Motiven. Da im Netz kein Text dieses Liedes zu finden war, habe ich versucht, diesen aufmerksam herauszuhören. Ohne muttersprachliche Unterstützung – herzlichen Dank, Adrian! 😉 – wäre mir das nicht gelungen. Hier meine freie Übersetzung:

Gott, hab Erbarmen, hab Erbarmen!
Ich habe das Dunkel der Nacht gesehen
Und die Dämonen hören nicht auf, mich zu verfolgen
Und mich vom Lichte fern zu halten.

Schwing dich herab zu mir,
Ist so viel Schönheit noch in den kaputten Knochen!

Triff mich, Jesus, triff mich hier,
Ich komme schon von so weit her!
Die Schrammen alle heile mir,
Die Narben alle lösche mir!

Schwing dich herab zu mir,
Ist so viel Schönheit noch in den kaputten Knochen!

Oh, Bethesda, oh, Bethesda,
Magst du dich nicht ergießen über mich?
Ich schwimme in deinen Fluten,
Oh, befreie meinen Geist!

Schwing dich herab zu mir,
Ist so viel Schönheit noch in den kaputten Knochen!

Oh, Gott, wühle auf dieses Wasser!
Gott, wühle auf dieses Wasser!

Schwing dich herab zu mir,
Ist so viel Schönheit noch in den kaputten Knochen!

Red Moon Road (Sheena Rattai) – »Beauty In These Broken Bones«

Mir macht all das bewusst, wie privilegiert und behütet meine eigene Existenz, und wie gesegnet und beseelt darüberhinaus mein eigenes Leben ist. Was ich sein, was ich leben, was ich erfahren darf, das alles ist so wunderbar und reich, so innig und selbstverständlich und lässt mich auf gänzlich umspektakuläre Weise glückselig, dass ich manchmal gar nicht weiß, wie ich es fassen und ertragen kann und wohin ich mit all diesem mich ergreifenden und durchflutenden Lieben soll.

Auch es nicht frei von Leid, von Mühen, von Frustration und Unerfüllung, aber immer getragen von dieser unerschütterlichen Gewissheit, immer eingehüllt in diese wundersame Geborgenheit, und stets durchtränkt von einer unverletzlichen Zärtlichkeit. Der einzige Schmerz, der darin für mich liegt, ist der, dass ich all das nicht eins zu eins mit anderen Menschen teilen kann, dass ich es zwar hingeben und herschenken, aber in keinen anderen Menschen einpflanzen und in ihm verwurzeln kann.

So sein, so leben zu dürfen, dies erfahren und mich dem hingeben zu können, das erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit und dem, was man wohl Demut nennt. Und gründet meine Gewissheit der Wahrheit immer tiefer in eine Unergründlichkeit des Liebens, der ich nichts mehr zu entgegnen weiß. Also lasse ich sie sein und mich darin fließen, und je mehr ich mich ergebe, umso mehr gibt sie mir hin.

»Was sollen wir nur tun? Was sollen wir jetzt tun?« Dieser Satz kommt mir in den Sinn, gesprochen von der Schauspielerin Linda Hunt (bzw. dem deutschen Synchron-Sprecher Wolfgang Spier) in der Rolle des kleinwüchsigen Foto-Reporters Billy Kwan im Film »Ein Jahr in der Hölle« (»The Year of Living Dangerously«) angesichts des menschlichen Elends, gegen das es kein Mittel zu geben scheint.

»Was sollen wir nur tun? Was sollen wir jetzt tun?« Ich habe eine Ahnung, die mehr als nur ein Ahnen ist. Aber ich habe keine Antwort parat. Ich traue Antworten nicht, zumal solchen, die gegeben werden, bevor man die Frage bis ganz zu Ende gegangen ist. Vielleicht also wäre das eine Antwort: »Lass alle Antwort liegen! Stelle alle Antwort in Fragen! Folge der Frage bis dorthin, wo sie entsteht! Folge der Frage so lange, bis Du ihre Quelle siehst!«

Ich bin den Fragen gefolgt, ich habe die Quelle gesehen. Ich weiß, wo und wer ich bin und dass mir nichts mehr geschehen kann. Ich habe nichts zu verlieren, mir kann sich nur noch alles mehren. Darum werde ich jetzt Wollfäden ohne Zahl knüpfen und sie bereit legen. Bereit, sie dort einzuflechten, wo sie gebraucht werden. Und sie dieser Geschichte anheim geben, einer Weihnachts-Geschichte, die ich vor vielen Jahren einmal zugesandt bekommen habe. [Ich habe nicht herausbekommen können, woher sie stammt und wer die Verfasserin ist. Falls jemand etwas darüber weiß, so bitte ich um Nachricht.]

Weihnachten in Shanghai

Einmal habe ich eine Zeitlang in China gelebt. Ich war im Frühling in Shanghai angekommen, und die Hitze war mörderisch. Die Kanäle stanken zum Himmel, und immer war der ranzige, üble Geruch von Sojabohnenöl in der Luft. Ich konnte und konnte mich nicht eingewöhnen. Neben Wolkenkratzern lagen Lehmhütten, vor denen nackte Kinder im Schmutz spielten. Nachts zirpten die Zikaden im Garten und ließen mich nicht schlafen.

Im Herbst kam der Taifun, und der Regen stand wie eine gläserne Wand vor den Fenstern. Ich hatte Heimweh nach Europa. Da war niemand, mit dem ich befreundet war und der sich darum kümmerte, wie mir zumute war. Ich kam mir ganz verloren vor in diesem Meer von fremden gelben Gesichtern.

Und dann kam Weihnachten. Ich wohnte bei Europäern, die chinesische Diener hatten. Der oberste von ihnen war der Koch, Ta-tse-fu, der große Herr der Küche. Er radebrechte Deutsch und war der Dolmetsch zwischen mir und dem Zimmer-Kuli, dem Ofen-Kuli, dem Wäsche-Kuli und was es da eben sonst noch an Dienerschaft im Haus gab. Am Heiligen Abend, und ich saß wieder einmal verheult in meinem Zimmer, überreichte mir der Ta-tse-fu ein Geschenk. Es war eine chinesische Kupfermünze mit einem Loch in der Mitte, und durch das Loch waren viele bunte Wollfäden gezogen und dann zu einem Zopf zusammengeflochten. „Ein sehr altes Münze“, sagte der Koch feierlich. „Und die Wollfäden gehört auch dir. Wollfäden sind von mir und mein Frau und von Zimmer-Kuli und sein Schwester und von Eltern und Brüder von Ofen-Kuli – von uns allen sind die Wollfäden.“

Ich bedankte mich sehr. Es war ein merkwürdiges Geschenk – und noch viel merkwürdiger, als ich zuerst dachte. Denn als ich die Münze mit ihrem bunten Wollzopf einem Bekannten zeigte, der seit Jahrzehnten in China lebte, erklärte er mir, was es damit für eine Bewandtnis hatte: Jeder Wollfaden war eine Stunde des Glücks.
Der Koch war zu seinen Freunden gegangen und hatte sie gefragt: „Willst du von dem Glück, das dir für dein Leben vorausbestimmt ist, eine Stunde des Glücks abtreten?“ Und Ofen-Kuli und Zimmer-Kuli und Wäsche-Kuli und ihre Verwandten hatten für mich, für die fremde Europäerin, einen Wollfaden gegeben, als Zeichen, dass sie mir von ihrem eigenen Glück eine Stunde des Glücks schenkten. Es war ein großes Opfer, das sie brachten. Denn wenn sie auch bereit waren, auf eine Stunde ihres Glücks auf meine Gunsten zu verzichten – es lag nicht in ihrer Macht, zu bestimmen, welche Stunde aus ihrem Leben es sein würde. Das Schicksal würde entscheiden, ob sie die Glücksstunde abtraten, in der ihnen ein reicher Verwandter sein Hab und Gut überschrieben hätte, oder ob es nur eine der vielen Stunden sein würde, in der sie glücklich beim Reiswein saßen; ob sie die Glückstunde wegschenkten, in der das Auto, das sie sonst überfahren hätte, noch rechtzeitig bremste, oder die Stunde, in der das junge Mädchen vermählt worden wäre. Blindlings und doch mit weit offenen Augen machten sie mir, der Fremden, einen Teil ihres Lebens zum Geschenk.

Nun ja – die Chinesen sind abergläubisch. Aber ich habe nie wieder ein Weihnachtsgeschenk bekommen, das sich mit diesem hätte vergleichen lassen. Von diesem Tag an habe ich mich in China zuhause gefühlt. Und die Münze mit dem Wollzopf hat mich jahrelang begleitet. Ich habe sie nicht mehr. Eines Tages lernte ich jemanden kennen, der war noch übler dran als ich damals in Shanghai. Und da habe ich einen Wollfaden genommen, ihn zu den anderen Fäden dazugeknüpft – und habe die Münze weitergegeben.

Joe Lederer [Doch noch gefunden, den Namen der Verfasserin!]

2 Gedanken zu “»Beauty In These Broken Bones« – Weihnachten 2016

  1. Uwe Hoppe sagt:

    wohl erzählt
    wohl geschrieben
    nichts dazu sagen zu wollen
    noch zu können
    wie immer in deinem
    in meinem
    in unserem Geiste
    mit Freuden ist mir das
    wie immer geblieben

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