Das, was wir am meisten fürchten
Das ist die Freiheit in uns selbst
Das, was wir am meisten fürchten
Das ist die Wahrheit, die uns gilt

Das, was wir am meisten fürchten
Das ist die Liebe, die uns ewig hüllt
Das, was wir am meisten fürchten
Das ist das Selbst, das uns unendlich füllt

Das, was uns Angst ist, ist allein
Diese Gewissheit, allem eins zu sein

(Henning Sabo)

Das ungenügende Verstehen

Einmal, es ist schon sehr lange her, da war es noch, dass die Menschen sich selbst verstanden. Und weil sie das konnten, verstanden sie auch jeden anderen Menschen, ebenso die Tiere und die Pflanzen, die Wasser und die Lüfte, jedes einzelne Wesen, die sichtbaren wie die unsichtbaren.

Schon bald aber war den Menschen dieses unmittelbare Verstehen nicht mehr genüge. Sie hatten sich in den Kopf gesetzt, nicht einfach nur zu verstehen, sie wollten »gut« verstehen und »richtig« verstehen, und sie wollten ganz sicher sein und ganz sicher gehen.

So erfanden sie die Begriffe, um mit ihnen jedes einzelne Wesen eindeutig festzuhalten. Sie erfanden die Sprache, um alle Begriffe miteinander zu verbinden und voneinander zu trennen, und sie erfanden die Schrift, um nichts Gewesenes mehr verlieren zu müssen.

So wurde ihnen alles immer sicherer, aber gleichzeitig auch immer unverständlicher. Am sichersten war ihnen nun ihr eigenes Selbst, ihr Existieren, während sie sich selbst aber immer weniger verstehen konnten. Sie wussten bald alles von sich, nur wussten sie nicht mehr, was und warum dieses »sich« überhaupt war.

So ging es ihnen mit allen Wesen und Dingen, die sie zwar ganz zu ergründen wussten, dabei aber gänzlich ihren Grund verloren. Je mehr ihnen etwas sichtbar war, um so uneinsichtiger wurde es ihnen, und obwohl ihnen nun jedes verstehbar war, vermochten sie weder das Einzelne zu verstehen noch das Ganze zu begreifen.

Alles, was sie so nicht mehr verstanden, schien sich von ihnen abzutrennen und sich zu einem großen Haufen zusammenzuballen. Dieser Haufen wurde immer größer und den Menschen immer unheimlicher, da sie ihn weder einzusehen noch zu überblicken vermochten. Sie hatten keinen treffenden Begriff für ihn, nichts, womit sie ihn eindeutig festhalten, eingrenzen und sicherstellen konnten.

Dieser Haufen bereitete ihnen zunehmend Sorge und auch Ängste, und es dauerte nicht lange, dass er ihnen wie ein gefährliches, mächtiges Wesen erschien, mit einem eigenen Sinnen und Trachten, mit einem eigenen Willen und Wirken. Daraus formten sich Märchen und Mythen, und schon bald erzählten sich die Menschen schaurige Geschichten, was dieses eigenmächtige Wesen bisher alles angerichtet und verbrochen haben sollte.

Schließlich kam jemand auf die Idee, diesen Haufen »Das Große Böse« zu taufen, ein anderer kam auf die Idee, ihn einzuzäunen und mit Gräben und Schutzwällen zu umgeben, und wieder ein anderer verfiel auf die Idee, ihn regelmäßig verfluchen und verbannen und alle Menschen feierlich von ihm abschwören zu lassen.

Manche Menschen begannen, ein Buch zu verfassen, in dem sie alle Geschichten um »Das Große Böse« sammelten und auch, wie es zu vermeiden und zu umgehen war und warum sich der Mensch von ihm fernhalten sollte und sich seiner enthalten musste. Dieses Buch wurde »Das Große Gesetz« genannt, und es zu lesen und zu kennen, war allem Menschen Pflicht und galt als lebensnotwendig und lebenserrettend. Mit dieser gewaltigen Schrift glaubten sie, den großen Haufen in den Griff und unter Kontrolle zu bekommen und sich nach allen Seiten und gegenüber allem Unverstehen hin abgrenzen zu können.

Doch obwohl sie sich jetzt eigentlich sicher fühlen und wähnen konnten, wuchs unter ihnen die Angst, das Ungewissen und das Misstrauen. Sie wussten keinen Grund dafür und sie wussten keine andere Lösung mehr, als nur immer mehr und genauere, sich mit jedem Aspekt des Lebens befassende Vorgaben in »Das Große Gesetzt« einzuschreiben. Aber so viel sie auch schrieben und lasen, vorgaben und nachfolgten, sie reichten nicht mehr dahin und sie wussten es nicht mehr, sich zu verstehen. Sie ahnten, etwas sehr Wesentliches war ihnen abhanden gekommen, aber dort, wo sie es suchten, war es nicht zu finden.

(Henning Sabo)