Das Böse ist nicht durch das Gute zu besiegen oder zu überwinden.
Wird das Böse erfunden, so ist auch das Gute erfunden.
Wird das Gute erfunden, so ist auch das Böse erfunden.
Das Böse hängt am Guten wie das Gute hängt am Bösen.
Wo das Böse ist, da ist auch das Gute;
Wo das Gute ist, da ist auch das Böse.
Das Gute ist nicht zu trennen vom Bösen,
Das Böse ist nicht zu trennen vom Guten.
Verschieden in ihrer Erscheinung, sind sie doch eins.
Sie sind ein und dasselbe.

Willst Du das Böse überwinden, so höre auf, das Gute zu erfinden.
Willst Du das Böse besiegen, so höre auf, es dem Guten entgegen zu halten.

(Henning Sabo)

Sanduhr, die vierte

»Ah! Wieder hab ich mich hingegeben!«, rief der Sand im letzten Laufen aus. »Pah!«, geringschätzte die Liebe, die sich, eine feine, klare Haut, auf dem Glas gefangen hatte, »Zeit«, sagte sie, »Zeit misst sich anders.«
Und als eine Hand das Glas erneut wendete und der Sand sich voll Stolz gegen diesen Spott wieder völlig gehen ließ, da war von der Liebe kein Hauch mehr geblieben.

(Henning Sabo)

»Was?!« brüllte der Löwe und ein ungläubiger Zorn zog über sein Gesicht, »Was glauben die Menschen?« »Die Menschen glauben«, wiederholte der Adler gelangweilt, dabei sorgfältig seine Krallen putzend, »Sie glauben, dass sie Gottes Ebenbild sind.«
Der Löwe sah ihn lange Zeit mit sehr, sehr nachdenklichen Augen an, die Falten auf seiner Stirn wellten auf und nieder, schließlich verfinsterte sich sein Gesicht zu einem breiten Grinsen und er begann zu lachen.
Nie zuvor hatte man ihn so lachen gesehen – er ließ sich rückwärts fallen, wälzte und kugelte sich auf dem Boden, hielt sich den dicken Bauch und wie ein Bach kullerten die Tränen aus seinen Augen.
Nie zuvor hatte man ihn so lachen hören – er lachte nicht nur aus vollem Halse, nicht nur aus voller Lunge, er lachte aus vollem Bauche, ja, er brüllte vor Lachen und: er hörte nicht wieder auf.
Er lachte so laut und ausgiebig, dass schließlich alle Tiere, eins nach dem anderen, rund um die ganze Erde, mit in sein Lachen einfielen; und der Planet erschütterte und bebte in diesem großen gewaltigen Gelächter, und selbst der Seestern am Grunde des tiefen, tiefen Meeres zuckte vor Vergnügen.
Am ausgelassensten aber lachte der kleine Floh am linken oberen Ohrzipfel des Löwen – aber niemand hörte ihn. Nicht einmal der große Löwe selbst.

(Henning Sabo)

Unter den vielen anderen Wesen, die da lebten, gerade geboren wurden oder gerade starben, da waren auf der großen Wiese auch diese drei: eine Laus, eine Maus und ein Mensch namens Klaus.
Die Maus blickte auf die Laus, der Mensch namens Klaus blickte auf die Maus, die Laus aber blickte nur geradeaus. Das hieß: in den weiten Himmel hinauf, denn sie saß auf einem Grashalm auf; der wuchs ganz gerade aus dem Boden und zeigte, ganz genau, nach oben.
»Wie kann es nur sein«, sprach auf einmal die Maus, »dass ein Tier ist, so gering und so klein wie diese Laus?« Sie schüttelte den Kopf, machte ein nachdenkliches Gesicht und sagte: »Ich verstehe das nicht. Ich verstehe das nicht.«
»Ich schon. Ich schon.«, sinnierte, mit spöttischem Ton, der Mensch namens Klaus und machte sich lustig über die Dummheit der Maus. Dachte bei sich: »Wie blind ist es doch, so ein Tier – sieht es mich denn, groß wie ich bin, nicht sitzen hier? Ist doch die Maus für mich nur ebenso klein, wie die Laus für die Maus wird sein.«
Und die am Halme noch hing, die winzige Laus, auch sie hatte was zu verstehen, denn aus dem großen Himmel heraus, da hatte sie ein Lächeln gesehen. Sie nahm es so hin und nahm es als Glück und lachte aus ganzem Herzen zurück.

(Henning Sabo)

Und Gottes Tochter sprach: »Sieh doch, dort …«, und ihre Pfote wies in Richtung jener Kugel, auf der das Leben erblüht war in einmaliger Vielfalt und unnachahmlicher Schönheit, »Sieh nur, alles stirbt.«
Und Gott sah hin zu jener Kugel, die er gut kannte – denn es war ihm seit langem die liebste. In jenen Jahrhunderten, da er an sich und der Welt gezweifelt hatte, an der Vergänglichkeit auch seines Lebens verzweifelt war, als das Dasein ihm einzig sinnlos erschienen und er in tiefe Traurigkeit gefallen war – wie sehr war sie ihm Trost gewesen, diese so kleine und unscheinbare Kugel da.
Wie oft hatte er dagelegen, nur sie betrachtend, ihren wundervoll schimmernden Glanz, das abwechslungsreiche Spiel ihrer Farben, ihre unvergleichlich kostbare Schönheit. Wie oft hatte er ihre Üppigkeit bestaunt, die darauf gewachsen war, die Verschiedenheit, die sich da im unüberschaubar dichten Nebeneinander zeigte und regte. Wie oft bewundert den steten Wechsel ihrer Erscheinung, das unendliche Auf und Ab des Vergehens und Werdens. Und wie oft hatte sie ihm seine Einsamkeit vergessen gemacht, wie oft hatte er um ihretwillen Freudentränen geweint. Ja, da war die Kugel ihm Sinnbild gewesen, und Hoffnung und Morgen.
Und jetzt, jetzt sah er sie, von dichten Wolken umschlossen, und wo sie sich lichteten, da war alles erstarrt, verblüht, erloschen.
Und Gott seufzte schwer, strich seinem Kinde das Fell und sprach: »Es vergehen die Leben. Der Herbst stirbt und der Winter übernimmt jetzt die Zeit. Wird sein ein langer und harter Winter. Vieles, sehr vieles, fast alles wird nicht überleben, für immer verloren sein, verschwunden und nie mehr zu finden, niemals mehr auferstehen. Aber das Leben stirbt nicht, es kann nicht vergehen. Das Leben schläft nur; es wird wieder erwachen, in neuen Formen und in neuen Bewegungen. Auch der Winter ist verurteilt, seine Zeit zu beenden, und nach ihm kommt Frühling – das bleibt. Sei nicht traurig«, sagte Gott und ließ seine Tränen, »Sei nicht traurig. Das Leben ist immer noch da. Es versteckt sich nur manchmal, wird unsichtbar. Aber es wird wieder blühen, schon im nächsten Millionenjahr.«
Und Gott ließ seine Tränen.

(Henning Sabo)

»Mir ist kalt«, rief die Erde, »ich friere, ich friere. Mir ist kalt!«, schrie sie zur Sonne.
Die aber lächelte nur, noch immer nicht müde, und sagte: »An mir kann’s nicht liegen, an mir kann’s nicht liegen.«
»Mir ist kalt!« brüllte die Erde und begann zu zittern, zu beben. Und brodelnd und fiebernd schrie sie ein letztes Mal in das All: »Ich erfriere, erfriere!«
Und der Mond, bedächtig seine Kreise ziehend, dachte bei sich: »Diese Erde, diese Erde – dass sie immer anders scheinen will, als sie ist.«

(Henning Sabo)