Sonderbar, aber diese Bahnhofsuhr, deren Sekundenzeiger einen Augenblick lang auf jedem Minutenstrich verharrt, als ob er sich innerlich für einen Moment dem steten Weitergehen entzieht und verweigert, erscheint mir dennoch viel entschlossener und viel energischer als all die ungezählten Uhren, auf denen die Sekundenzeiger mit steter Gleichförmigkeit ihre Kreise und unaufhaltsam vorwärts ziehen.

(Henning Sabo)

Ja, ich bekenne, dass ich vom Leben nichts weiter begreife als nur Fragmente. Und ich weiß nichts anderes davon wiederzugeben als Fundstücke, die scheinbar keinen Zusammenhang haben. Doch das kann mich nicht beirren, denn fern jeglichen Urteils erkenne ich in jeder dieser Flüchtigkeiten das Große Ganze wieder, des Lebens ungeteilte Fülle, die sich in allem offenbart. Und das genügt.

(Henning Sabo)

Das ungenügende Verstehen

Einmal, es ist schon sehr lange her, da war es noch, dass die Menschen sich selbst verstanden. Und weil sie das konnten, verstanden sie auch jeden anderen Menschen, ebenso die Tiere und die Pflanzen, die Wasser und die Lüfte, jedes einzelne Wesen, die sichtbaren wie die unsichtbaren.

Schon bald aber war den Menschen dieses unmittelbare Verstehen nicht mehr genüge. Sie hatten sich in den Kopf gesetzt, nicht einfach nur zu verstehen, sie wollten »gut« verstehen und »richtig« verstehen, und sie wollten ganz sicher sein und ganz sicher gehen.

So erfanden sie die Begriffe, um mit ihnen jedes einzelne Wesen eindeutig festzuhalten. Sie erfanden die Sprache, um alle Begriffe miteinander zu verbinden und voneinander zu trennen, und sie erfanden die Schrift, um nichts Gewesenes mehr verlieren zu müssen.

So wurde ihnen alles immer sicherer, aber gleichzeitig auch immer unverständlicher. Am sichersten war ihnen nun ihr eigenes Selbst, ihr Existieren, während sie sich selbst aber immer weniger verstehen konnten. Sie wussten bald alles von sich, nur wussten sie nicht mehr, was und warum dieses »sich« überhaupt war.

So ging es ihnen mit allen Wesen und Dingen, die sie zwar ganz zu ergründen wussten, dabei aber gänzlich ihren Grund verloren. Je mehr ihnen etwas sichtbar war, um so uneinsichtiger wurde es ihnen, und obwohl ihnen nun jedes verstehbar war, vermochten sie weder das Einzelne zu verstehen noch das Ganze zu begreifen.

Alles, was sie so nicht mehr verstanden, schien sich von ihnen abzutrennen und sich zu einem großen Haufen zusammenzuballen. Dieser Haufen wurde immer größer und den Menschen immer unheimlicher, da sie ihn weder einzusehen noch zu überblicken vermochten. Sie hatten keinen treffenden Begriff für ihn, nichts, womit sie ihn eindeutig festhalten, eingrenzen und sicherstellen konnten.

Dieser Haufen bereitete ihnen zunehmend Sorge und auch Ängste, und es dauerte nicht lange, dass er ihnen wie ein gefährliches, mächtiges Wesen erschien, mit einem eigenen Sinnen und Trachten, mit einem eigenen Willen und Wirken. Daraus formten sich Märchen und Mythen, und schon bald erzählten sich die Menschen schaurige Geschichten, was dieses eigenmächtige Wesen bisher alles angerichtet und verbrochen haben sollte.

Schließlich kam jemand auf die Idee, diesen Haufen »Das Große Böse« zu taufen, ein anderer kam auf die Idee, ihn einzuzäunen und mit Gräben und Schutzwällen zu umgeben, und wieder ein anderer verfiel auf die Idee, ihn regelmäßig verfluchen und verbannen und alle Menschen feierlich von ihm abschwören zu lassen.

Manche Menschen begannen, ein Buch zu verfassen, in dem sie alle Geschichten um »Das Große Böse« sammelten und auch, wie es zu vermeiden und zu umgehen war und warum sich der Mensch von ihm fernhalten sollte und sich seiner enthalten musste. Dieses Buch wurde »Das Große Gesetz« genannt, und es zu lesen und zu kennen, war allem Menschen Pflicht und galt als lebensnotwendig und lebenserrettend. Mit dieser gewaltigen Schrift glaubten sie, den großen Haufen in den Griff und unter Kontrolle zu bekommen und sich nach allen Seiten und gegenüber allem Unverstehen hin abgrenzen zu können.

Doch obwohl sie sich jetzt eigentlich sicher fühlen und wähnen konnten, wuchs unter ihnen die Angst, das Ungewissen und das Misstrauen. Sie wussten keinen Grund dafür und sie wussten keine andere Lösung mehr, als nur immer mehr und genauere, sich mit jedem Aspekt des Lebens befassende Vorgaben in »Das Große Gesetzt« einzuschreiben. Aber so viel sie auch schrieben und lasen, vorgaben und nachfolgten, sie reichten nicht mehr dahin und sie wussten es nicht mehr, sich zu verstehen. Sie ahnten, etwas sehr Wesentliches war ihnen abhanden gekommen, aber dort, wo sie es suchten, war es nicht zu finden.

(Henning Sabo)

Richtung

Vor den Toren zum Gericht da stand der Tod, wie immer.
In schwarzer Robe lief ihm zu der Richter.
Zwei Finger hielt der Tod ihm vor. Es waren Menschenfinger, noch warm und rot, voll von widerstrebendem Blut.
Ohne zu zögern zog der Richter den rechten; es war der kurze, wie immer.
»Verloren«, nickte der Tod, »verloren.«
»Ich nicht!« rief der Richter, »Ich nicht!«
Die Türe fiel hinter ihm zu.
Auf den Straßen begann es zufrieren.

(Henning Sabo)

Gestern

»So geht es nicht weiter«, beschloss das Leben, »dieses ewige Hin und Her. Lass uns endlich feststellen, wer der Endgültige ist.«
»Nun«, versprach der Tod, »es soll entschieden werden.«
»Wirklich?«, aufatmete das Leben, »Und wie?«
»Wir werden die Zeit anhalten.«, fuhr der Tod fort, »Das wir uns zeigen – ein für alle Mal.«
»Und wann beginnen wir?« »Morgen.«

(Henning Sabo)

Zu gleicher Zeit gingen wir den gleichen Weg, gemeinsam. Wir wurden Freunde.
Doch eines Tages bliebst du stehen, während ich noch weiter ging. Als ich mein Ziel erreichte, drehte ich mich nach dir um. Ich sah dich noch und wir konnten uns noch verstehen.
Ich fragte dich: »Warum bist Du auf halber Strecke stehen geblieben?«
Statt zu antworten, fragtest du mich, warum ich denn so weit über das Ziel hinausgegangen sei.

(Henning Sabo)

Fremde Sprachen, fremde Sitten

»Deine Nase passt mir nicht!« schrie der Mann mit dem roten Schleier im Gesicht, und wütend stach er den kurzen Dolch wieder in sein Gewand zurück, »Hier, du kannst sie behalten.« Dann, mich mit seinen Adleraugen musternd, fügte er hinzu: »Aber nimm dich in acht, Fremder; die Leute hier können dich nicht riechen.«

(Henning Sabo)

Auszüge, Raffinaden, Konzentrate – das ist es, was wir haben wollen.
Wir wollen von allem nur das Beste, aber wir vergessen, dass das Beste nichts ist ohne das, wodurch es zum Besten wird, nichts ist ohne das, was es zum Besten macht.
Das beste Teil ist nichts ohne die anderen Teile, das Beste ist nichts ohne das Ganze.
Das Beste ohne das Ganze ist nicht mehr das Beste. Das Beste ohne das Ganze ist nur ein abgetrennter Teil.

Ein abgetrennter Teil ist ein Teil ohne Lebendigkeit und Energie. Ihm fehlt das Wesentliche.

(Henning Sabo)