Stille gewahren

Vor etwa vierzig Jahren habe ich – weder bewusst noch unbewusst – begonnen, im Außen dem Verlangen nachzugeben, teilzuhaben an der Gemeinschaft der Menschen, und zugleich im Innen jenem Ahnen, das Wahre zu wissen, nachzugehen und mein wie das Sein an sich zu ergründen.

In Kindheit und Jugend mich wie ein Außerirdischer fühlend, ausgesetzt in eine fremde Welt, eine Realität des Scheins, und ausgesetzt den verlogenen Ritualen, den irrsinnigen Normalitäten dieser mir so nahen und doch fernen Wesen, im Erscheinen mir so gleich, im Empfinden so verschieden.

Mit der Zeit – im Außen angepasst, um nicht aufzufallen – hatte ich mich ganz in mein Innen zurückgezogen; dort wusste ich mich daheim und aufgehoben. Auch in der Natur, mit ihr und mir allein, dort durfte ich einfach sein, ein selbstverständliches Sein in einem selbstverständlichen Sein.

In den mich umgebenden Menschen war kein unverfälschtes Echo, kein vollständiger Spiegel zu finden. Das Lesen philosphischer und religiöser Schriften vermochte mich nicht zu befriedigen, sie wurzelten – dies konnte ich mit Sinn und Sinnen spüren – in Ideen, nicht im Wissen des Wahren.

Mit Anfang Zwanzig schien mein Dasein ein einsames Vakuum in einer Welt ohne Sinn, daraus es kein Entkommen gab, darin keine Erlösung. Um mich herum weder Halt noch Bestätigung, in mir weder Ziel noch Selbstvertrauen. War dennoch nicht Fallen, doch Gewahren und Gewissen.

So nahm das Sein sich meiner an, es ließ mich gewähren und sein, es schenkte mir Vertrauen und Erkennen, Geborgenheit im Innen, und immer auch ein zeitweises Befreien aus jenen allgemeinen Normen und existenziellen Zwängen, die mich ansonsten Heil und Leben gekostet hätten.

In meiner Sehnsucht nach dem Wahren konnte mich nichts befrieden oder zufriedenstellen, nichts mir das Wasser dieser Quelle reichen, deren Geschmack ich so klar auf meiner Zunge spürte, deren reines Sprudeln mein Herz so tief und ganz erfüllte. Immer fehlte etwas, und es war genau eben das.

Irgendwann, ganz ohne Sensation, von einem Augenblick auf den selbigen, hat diese Sehnsucht sich gestillt und erfüllt. Der Ursprung hatte sich erkannt, die Quelle war in sich selbst heimgekehrt; der Spiegel spiegelte seine eigene Leere, das All löste sich ein in eine allumfassende Stille.

Das Sein, in sich selbst gesunken, hatte sich dem Sosein ergeben. Keine Bedingung war zu stellen noch zu erfüllen, nichts musste sich behaupten, nichts behauptet werden. Lieben bedurfte keiner Erwiderung, Frieden keiner Bestätigung. Wissen war Gewissheit, Wahrheit Gewahren geworden.

Dies vor allem wollte ich mit- und teilen, dieses Befreitsein von der Illusion der Unfreiheit, dieses Erlöstsein von der Idee der Unerlöstheit. Einzig im Erkennen dieses Befreitseins und Erlöstseins sind wir der scheinbaren Notwendigkeit enthoben, Freiheit erstreiten, Erlösung ersuchen zu müssen.

Ich wollte einladen, Annahmen einzutauschen gegen die absolute Annahme des Augenblicklichen, Erfindungen aufzugeben im bedingungslosen Vorfinden des Gegebenen. Das Wahre ist offenbar in jedem Augenblick, und wird ihm nichts hinzugefügt, so ist es augenblicklich offenbart.

In allem, was ich schreibe und sage, spreche ich von nichts anderem. Einzig von diesem, vom alleinigen Einzigen. Vom Ende aller Ideen, vom Auslöschen jeglicher Illusion. Das Wahre ist das, was bleibt, wenn jede Vorstellung von Wahrheit gegangen ist. Dies gilt für alles und jedes.

Es war meine Illusion, zu glauben, die Menschen würden für das Wahre brennen und nicht eher zur Ruhe kommen, bis sie ganz auf ihren Grund gegangen. Es war meine Idee, zu denken, ich könne sie begleiten und ihnen mein Erkennen schenken. Auch diese Vorstellung ist schlussendlich gegangen.

Die Menschheit insgesamt erliegt ihrer Vorstellung von Realität. Die Mehrheit verleugnet und verdrängt, konsumiert und kompensiert, betäubt oder berauscht. Die nach Erlösung sehnen, sie sind so leicht zu verführen, auf Heilslehren zu schwören oder messianische Visionen nachzubeten.

Gespaltene Zungen rufen nach schnellen und radikalen Lösungen, heuchlerisches Handeln sucht zu verhehlen, dass wir nicht mehr weiter wissen, aber weiter so tun und müssen – denn längst sind wir zu Sklaven zweifelhafter Ideen geworden, die nur noch einer destruktiven Ordnung gehorchen.

Gegenbewegungen werden ausgerufen, Gegenpole eingenommen, alle entsprungen den gleichen grundlegenden Irrtümern, dasselbe in Blau oder Grün; wir verkaufen alten, giftigen Wein in neuen, glitzernden Schläuchen, wir suchen die Seuchen mit jenen Mitteln zu beheben, die sie verursachen.

So schaut der Mensch in die Welt, in die Zeit, doch nicht in sein Herz, nicht in sich selbst. Das Wahre lärmt nicht, das Wahre wirbt nicht, das Wahre missioniert nicht. Das Wahre erwartet dich, zu jeder Zeit, wo immer Du bist. Es ist immer hier, es ist das, was übrig bleibt, denn nichts anderes ist.

Das Wahre ist nicht die in irgendeiner Hinsicht beste aller Vorstellungen, die wir uns vom Wahren machen können. Das Wahre ist das Nichtvorhandensein jeglicher Vorstellung. In der Abwesenheit aller Vorstellung offenbart sich das wahre Sein. Dann haben wir aufgegeben, ihm etwas zuzufügen.

Dem Sein, dem Wahren nichts zuzufügen, ist gleichbedeutend mit Schweigen. Keine Vorstellung erzeugen, keine Idee verfolgen. Doch dazu scheint der Mensch nicht fähig zu sein, er tauscht nur eine Hinzufügung durch eine andere ein, die eine Vorstellung überwindet er mit einer weiteren.

Geschichte ist stets eine sich wiederholende. Sie scheint in Bewegung und sie erscheint in Zyklen. Gerade jetzt als eine sich beschleunigende, sich verdichtende. Der Mensch wird sie wieder nicht nutzen, statt von sich fort, auf sich zuzugehen, nicht nach außen, sondern nach innen zu schauen.

Würde er sich sich selbst stellen, den Mut zur Demut zulassen und sich absolut und bedingungslos diesem Augenblick und seinem Sosein hingeben, er würde den Grund von allem erfahren und in die immerwährende, unverbrüchliche Stille tauchen. In diese Stille, die er selbst ist, die das Sein ist.

So schließt sich, auch für mich, nun ein Kreis. Ich kehre heim in die kostbarste aller menschlichen Seinsformen, in das Schweigen. In das Schweigen und Lauschen, das Schauen und Gewahren, das Spiegeln und Annehmen, Vertrauen und Hingeben, in das Ein- und Ausatmen, das Sein und Sosein.

Ich bin zurückgezogen in diesen Ursprung, bin herausgenommen aus dem Öffentlichen, um mich ganz dem Veröffentlichen zu widmen. Ich habe schon alles ausgesprochen, aber noch ist nicht alles auf- und ausgeschrieben, und womöglich finde ich noch eindeutigere Worte, dieses Eine zu sagen.

Dort, im Schweigen, in dieser Stille, der wir alle zueigen, magst Du mich treffen. Dort, in diesem Schweigen, wird es uns sprechen. Wird sein, was es ist, in Zärtlichkeit und Selbstverständlichkeit, in Selbstbewusstheit und Selbstvergessenheit – in diesem Gewahren, das nichts von sich weiß.

In Liebe, Henning

(Henning Sabo)

Stille der Leere

Alles Zugefügte ist abgelegt;
Das Sein zeigt sich nackt sich selbst.
Nichts ist da fremd, nichts ist vertraut,
Nichts ist getrennt, nichts ist vereint.
Kein Vergehen, das verbleibt,
Kein Werden, das existiert.
Nichts, das sich bewegt,
Nichts, das stille steht.
Leer ist das Etwas,
Leer ist das Nichts.

Alles Zugefügte ist abgelegt;
Das Sein zeigt sich nackt sich selbst.

(Henning Sabo)

The Garifuna Women’s Project – »Umalali«

Der Link zum Sonntag:

Die Garifuna sind eine Volksgruppe, die aus der Vereinigung ehemaliger Sklaven aus Westafrika und indigenen Kariben auf der Karibikinsel St. Vincent hervorgegangen sind und die heute als Minderheiten in Zentralamerika, vor allem in Belize und Guatemala leben.

Sie haben eine eigenständige, aus vielen Kulturen und Einflüssen geformte Musik geschaffen, die ich ganz wunderbar finde. Diese Musik wurden in den 1990er und 2000er Jahren international bekannt durch die akribische und professionelle Tätigkeit der Musiker und Produzenten Andy Palacio und Ivan Duran (beide aus Belize), die das »Garifuna Projekt« bzw. das »Garifuna Women’s Project« ins Leben riefen.

Besonders das von Ivan Duran über viele Jahre zusammengetragene Album »Umalali« (»Stimme«) des »Garifuna Women’s Project« enthält Musik von außergewöhnlicher, gleichsam fremder wie vertrauter Schönheit, voller Melancholie und Lebensfreude. Ich habe hier sieben Links zu Liedern aus diesem Album hinterlegt, zuletzt zum Titel »Hattie« über den Wirbelsturm dieses Namens, der 1961 große Teile von Belize zerstörte. Ein dennoch wundervolles Lied, eines, das ich endlos hören könnte.

The Garifuna Women’s Project – »Merua«

The Garifuna Women’s Project – »Nibari«

The Garifuna Women’s Project – »Yündüya Weyu«

The Garifuna Women’s Project – »Fuleisei«

The Garifuna Women’s Project – »Áfayahádina«

The Garifuna Women’s Project – »Anaha Ya«

The Garifuna Women’s Project – »Hattie«